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Das Positive nach der Punkteteilung von Mainz: Gerardo Seoane versteht es, flexibel zu reagieren, wenn die angestrebte Taktik nicht funktioniert oder wenn das Team die angestrebte Taktik nicht auf den Platz zu bringen imstande ist. Oder nicht Willens ist, die vom Trainer verordnete Herangehensweise umzusetzen. Kein starres Kleben an Formation oder Spielidee, das ist einer der erkennbaren Fortschritte gegenüber der Vorsaison. Nichtsdestoweniger müssen wir wegen der ersten 45 Minuten der Partie konstatieren: Borussia Mönchengladbach hat ein Problem.

Vor Wochenfrist hatten wir hier unsere Hoffnung hinterlegt, das Spiel gegen Bochum könne einen Kurswechsel signalisiert haben. Zum gefühlt ersten Mal überhaupt hatte die Mannschaft gegen einen aggressiven, über "Mentalität" und Körperlichkeit kommenden Gegner von Beginn an dagegengehalten. Hatte sie Leidenschaft mit Leidenschaft bekämpft. Auf diesem Feld Augenhöhe hergestellt zu haben, ermöglichte es dann erst, die höhere individuelle Qualität auszuspielen und ein Spiel recht klar für sich zu entscheiden. Nun wusste jeder, Gerardo Seoane eingeschlossen, dass nach Bochum ein weiterer Gegner warten würde, der Borussia mit gefletschten Zähnen begegnet. Und trotzdem geschah das, was in dieser Saison schon zu oft geschehen ist. Das Dagegenhalten blieb aus. Zaghaft und ungeschickt stellte sich die Mannschaft an, produzierte Standardsituationen gegen sich in Reihe und brachte nach Vorne so gut wie nichts zustande. Ein Auszug aus der Seitenwahl-internen Kommunikation in dieser ersten Halbzeit: "unerträgliche Leistung", "Totalausfälle", "Arbeitsverweigerung", "Null-Bock-Mentalität", "Keine Qualität". Solche Urteile fallen in der Hitze des Moments, zeigen aber dennoch, wie das wirkt, was Borussia uns in dieser Saison schon zu oft zugemutet hat.

Und so kommen wir unweigerlich zur Frage "Woran liegt's?" Weiß der Trainer das? Oder steht er vor demselben Rätsel wie die Anhängerschaft? Seoane hatte nach Bochum gemacht, was geboten war: Er hatte die taktische Aufstellung mit Viererkette beibehalten. Auf dem Papier war die Abwehr dank der Rückkehr der zuletzt gesperrten Itakura und Elvedi sogar stärker besetzt. Mit Stefan Lainer war ein "Kampfschwein" in der Mannschaft geblieben. Seoane hatte die Außenstürmer erneut von Defensivaufgaben befreit. Es hätte also alles so laufen können, wie gegen Bochum. Lief es aber nicht. Sind nun Elvedi und Itakura Schuld am "Mentalitätsverlust"? Sicher nicht. Eher hat sich die Mannschaft schon wieder darauf verlassen, dass die durchaus vorhandene Qualität der Einzelspieler schon ausreichen würde, um den Tabellensiebzehnten in Schach zu halten. Auch wenn so eine Herangehensweise in dieser Spielzeit schon diverse Male schiefgegangen ist, mag das zumindest unterbewusst eine Rolle spielen. Wobei die individuelle Qualität im Vergleich zu den meisten Gegnern in der Bundesliga gar nicht (mehr) so viel größer ist. Ob der eine oder andere immer noch meint, bei einem gefühlten Champions-League-Teilnehmer zu spielen? Viele Bundesligisten auch aus der unteren Tabellenhälfte sind mit Nationalspielern aus Ländern, die in der FIFA-Weltrangliste oberhalb von Gibraltar stehen, gespickt. Bei Licht betrachtet, ist Borussias Kader einer fürs Mittelfeld der Liga. Mehr nicht. Die spielerische Qualität reicht nicht für mehr. Ohne "Mentalität" geht es auch bei Borussia nicht mehr. Das scheint in den Köpfen nicht wirklich angekommen zu sein.

Die Frage ist: Wurde bei der Komposition des Kaders zu wenig an Kampf und Härte geachtet? Oder ist es das sprichwörtliche "Trinkwasser im Borussia-Park", das den Spielern dementorengleich den Kampfgeist aus den Knochen zieht? Will sagen: Herrscht bei Borussia ein Klima, das das Larifari begünstigt? Geht man mit Baller-League-Podcastern und Karriere-Rentnern zu lässlich um? Gibt es immer noch zu viele Pferde im Kader, die nicht höher springen, als sie müssen? Ist man zu selbstzufrieden, weil man ja doch voraussichtlich eine Saison ohne existenzielle Sorgen spielen wird, auch wenn es ohne Derbysieg noch mal ungemütlich werden könnte? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass das so auf Dauer nicht geht. Nach dem Spiel in Mainz sparten die Spieler und der Trainer immerhin diesmal nicht mit Selbstkritik. Auch die ordentliche zweite Hälfte und die im Grunde ja erfreuliche Tatsache, dass man den Schalter schon umlegen kann, wenn es sein muss, führten diesmal nicht zur Schönrednerei. Was verbal gelingt, sollte am kommenden Samstag nun auch praktische Folgen haben. Mit dem Derby gegen Köln steht eine weitere Partie ins Haus, in der es einen auf dem Papier schwächeren Gegner erst einmal in die Schranken zu kämpfen gilt. Die Kür kann folgen, wenn Köln merkt, dass Borussia nicht wankt. Das ist klar. War es aber am Samstag in Mainz auch.