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Der größte Feind der Sittlichkeit ist die Abstumpfung. (Albert Schweitzer)

Der Mensch ist es gewohnt, sich an fast alles zu gewöhnen. Selbst Seuchen, Kriege oder sonstige Katastrophen müssen irgendwie verarbeitet werden, indem man gegen das eigentlich Unerträgliche zunehmend abstumpft. Im Fußball besteht die „unerträglichste Katastrophe“ in der Ausschaltung des sportlichen Wettbewerbs. In diesen Tagen hat Borussia gleich zweimal die Gelegenheit, zumindest ein kleines Zeichen gegen zwei Repräsentanten dieser Wettbewerbsverzerrung zu setzen. Gegen die TSG Hoffenheim wurde die Aufgabe bereits erfolgreich bewältigt. Am Dienstag wartet mit dem VfL Wolfsburg ein weiterer Konzernverein darauf, von der Fohlenelf in die Schranken verwiesen zu werden.

Nicht unterschlagen werden darf, dass der Wettbewerb inzwischen vielleicht sogar noch mehr durch die Gier der europäischen Großvereine behindert wird. Spätestens seit Einführung der Champions League 1992 setzen diese alles daran, um ihre Vormachtstellung dauerhaft zu manifestieren und die Gefahr wirtschaftlich schädlicher Rückschläge zu minimieren. Wenn die selbsternannte „Königsklasse“ des europäischen Fußballs ab dem kommenden Jahr 225 statt wie bisher 125 Partien durchführt, dann wird dies finanziell zuvorderst den Klubs zugutekommen, die ohnehin schon seit Jahrzehnten den Titel unter sich ausmachen. Ab 2025 folgt mit der auf 32 Mannschaften ausgeweiteten Klub-WM eine weitere Gelddruckmaschine für die Top-Klubs, die sich so immer weiter vom nationalen Wettbewerb entfernen.

Das andere unerträgliche Ärgernis sind eben jene Vereine, die von einzelnen Firmen oder Mäzenen gezüchtet werden und so unabhängig von ihrem sportlichen Erfolg über finanzielle Möglichkeiten verfügen, von denen andere Klubs nur träumen können. Bereits 1979 wurde die Büchse der Pandora mit dem Aufstieg der Betriebssportgemeinschaft der Bayer AG in Leverkusen geöffnet. 1997 folgte der VW-Konzern dem unrühmlichen Beispiel. Zu dieser Zeit spielte die TSG Hoffenheim noch in der Verbandsliga, war aber durch die Finanzförderungen ihres milliardenschweren Gönners bereits auf dem Weg in den Profifußball. Für diese drei Vereine wurde eine eigene Ausnahmeregelung von der bewährten 50+1-Regel geschaffen, die diese im Grunde ad absurdum führt und daher zurecht vom Kartellamt beanstandet wurde. Anderen Vereinen, die sich sportlich um den Eintritt in die höchste deutsche Fußballliga bemühen, werden durch die Klubs aus Wolfsburg, Leverkusen und Hoffenheim drei Plätze in der Bundesliga blockiert.  

seitenwahl 202311102043 IMG 0366In der Fußballöffentlichkeit werden diese Wettbewerbsverzerrungen weitgehend schulterzuckend hingenommen. Der Fußball hat sich schon lange dem Turbokapitalismus unterworfen. Noch perfidere Konstrukte wie RB Leipzig oder die Sportswashing-Aktivitäten diverser Staaten aus dem Nahen Osten stehen weit mehr in der Kritik, sind letztlich aber nur die logische Fortführung all dieser Absurditäten, an die wir uns seit vielen Jahren gewöhnt zu haben scheinen.

Auch wenn es den einen oder anderen inzwischen nerven mag, so dürfen Artikel zu Spielen gegen die TSG Hoppenheim oder VW Wolfsburg daher niemals ohne einen Verweis darauf auskommen, dass es sie in einer perfekten Welt gar nicht geben dürfte. Der Kampf gegen die Abstumpfung ist wichtig, damit zumindest der letzte verbleibende Rest der Chancengerechtigkeit im Profi-Fußball noch möglichst lange erhalten bleibt.

Am vergangenen Samstag hat Borussia der TSG Hoffenheim gegenübergestanden, bei der in der letzten Saison lange Zeit so etwas wie Hoffnung bestand, sie könne bald doch wieder dahin zurückkehren, wo sie hingehört – in die Unterklassigkeit des Baden-Württembergischen Spielbetriebs. Erst am letzten Spieltag konnte sich der Verein retten, um dann in diese Saison mit 20 Punkten aus den ersten 12 Spielen überraschend stark zu starten. Gerade auswärts machte das Team von Pellegrino Matarazzo von sich reden, sodass auch ihr engagierter Auftritt im Borussia-Park nicht wirklich überraschte.

Umso erfreulicher, dass die ersatzgeschwächte Fohlenelf diese komplizierte Begegnung am Ende für sich entscheiden konnte. Ein Unentschieden wäre ehrlicherweise das gerechtere Ergebnis gewesen. Aber Borussia hat in dieser Saison schon so viele Punkte unnötigerweise liegen gelassen, dass es an der Zeit war, den Spieß einmal umzudrehen und einen etwas glücklichen Sieg einzufahren.

Für die kurzzeitig erkrankten Wöber, Weigl und Cvancara bekamen Friedrich, Neuhaus und Ngoumou eine erneute Chance. Wirklich nutzen konnte sie nur der Franzose, der am Ende zum Matchwinner wurde, indem er den mit Abstand besten Gladbacher Angriff zum 2:1-Siegtreffer abschloss.

seitenwahl 202311102219 IMG 1305Marvin Friedrich hatte Glück, dass seine Stellungsfehler an diesem Tag vom Gegner nicht bestraft wurden, sodass ihm insgesamt noch eine seiner besseren Saisonleistungen attestiert werden kann. Von Florian Neuhaus muss aber in jedem Fall mehr erwartet werden, wenn er sich gegen die starke Konkurrenz im zentralen Mittelfeld behaupten möchte. Selbst wenn Julian Weigl mit Zerrung weiter ausfällt, wäre es gut möglich, dass ihm am Dienstag im Pokalspiel gegen VW Wolfsburg der zuletzt nach seinen Einwechselungen engagierte Christoph Kramer vorgezogen wird.

Die Wölfe waren noch vor drei Wochen im Borussia-Park 0:4 untergegangen. Nicht nur deshalb werden sie als Außenseiter in die Partie starten. Während Borussia Mönchengladbach mit vier Siegen in Folge wieder eine Heimmacht geworden ist, haben die Niedersachsen ihre sechs letzten Auswärtsspiele allesamt verloren. Am vergangenen Samstag war der dritte VfL der Liga zu stark für die Wölfe, bei denen Trainer Nico Kovac zunehmend unter Druck gerät. Aller Beteuerungen zum Trotz, dass sein Arbeitsplatz nicht gefährdet sei: Sollte Wolfsburg ein weiteres Mal im Borussia-Park untergehen, wird es im Hause Kovac eine sehr ungemütliche Adventszeit geben.

In Mönchengladbach deutet dagegen vieles auf ein besinnliches Weihnachtsfest hin. Noch realistische vier bis fünf Zähler aus den verbleibenden Spielen gegen Union, Bremen und Frankfurt sollten reichen, um den gesicherten Mittelfeldplatz bis zum Jahresende zu festigen. Ganz besonders schmackhaft wäre aber ein Überwintern im DFB-Pokal, wo ab Januar nur noch maximal drei weitere Erstligisten um das Ticket nach Berlin streiten werden.

Sportlich stünden die Chancen auf einen Titelgewinn dann so gut wie lange nicht. Aber auch finanziell wäre das Erreichen des Viertelfinals enorm wichtig, um den weiterhin andauernden Umbruch in den kommenden Transferperioden noch weiter qualitativ zu untermauern.

Schon jetzt ist erfreulich, dass die Qualitätssprünge zwischen erster Mannschaft und Ersatzbank nicht mehr annähernd so gravierend sind wie in den vergangenen Jahren. Obwohl gegen Wolfsburg bis zu 10 Spieler ausfallen könnten – davon gleich sechs potenzielle Stammkräfte – kann Gerardo Seoane in jedem Fall eine Mannschaft aufbieten, der ein weiterer Heimsieg absolut zuzutrauen ist. Es wäre ein wichtiges Zeichen – für Borussias Weihnachtsfrieden, aber nicht zuletzt auch für den sportlichen Wettbewerb und gegen das Abstumpfen.

seitenwahl 202311102111 IMG 0798Borussia: Nicolas – Scally, Elvedi, Wöber – Honorat, Reitz, Kramer, Koné, Netz – Plea, Ngoumou

Wolfsburg: Casteels – Lacroix, Jenz, Zesiger – Maehle, Svanberg, Vranckx, Gerhardt – Cerny, Majer - Wind

SEITENWAHL-TIPPS

Michael Heinen: “Es wird nicht ganz so leicht wie noch vor drei Wochen. Am Ende siegt Borussia aber mit 3:2 nach der regulären Spielzeit und darf sich im Viertelfinale auf ein Derby gegen Düsseldorf freuen.“

Christian Spoo: „So sehr Favorit wie jetzt war Borussia lange nicht. Und weil manche Dinge einfach sind, wie sie sind, tut sie sich extra schwer. 1:1 nach 90 Minuten, 2:2 n. V. Das folgende Elfmeterschießen ist untippbar.“

Volkhard Patten: „Borussia ohne Zehne gegen Wölfe ohne Zähne. Das wird eine zähe Veranstaltung, bei der Borussia einem 2:1 nach Verlängerung den Gästen den Zahn zieht.“

Claus-Dieter Mayer: „Gegen den gleichen Gegner innerhalb kurzer Zeit zu Hause in der Liga und im Pokal zu gewinnen? Kann das nochmal gut gehen? Ja, so gerade eben… es wird ein sehr unborussiger knapper 1:0-Sieg in einem zähen Kampfspiel.“

Thomas Häcki: „Die Borussia ist auf einem guten Weg, aber es wird Rückschläge geben. Ein solcher ist das 1:2 am Dienstag.“

Michael Oehm: „Viel wird davon abhängen, ob zumindest einige Spieler des am Samstag doch arg gebeutelten VfLs auf den Platz zurückkehren können. Dann aber sollte es für ein knappes 2:1 gegen den Unvfligsten aller VfLs reichen.“