seitenwahl 202308051641 IMG 3204Der Ärger war groß, als das Magazin "11 Freunde" unmittelbar vor Start der Bundesliga-Saison 2023/24 seine Prognose zu Borussia Mönchengladbach abgab. "Am Ende werden die Gladbacher am Abstieg kratzen, sich auf dem 16. Tabellenplatz wiederfinden und in der Rele­ga­tion folg­lich nur noch aufs Freilos im Volks­park hoffen können." Der Artikel wurde wild diskutiert und die meisten fragten sich, warum das Fußballmagazin plötzlich so uniformiert sei?

Schließlich hatte "Onkel Rollo", wie Sportvorstand Roland Virkus im Internet oft genannt wird, schon "gekocht": Franck Honorat und Tomas Cvancara wurden für zusammengerechnet etwa 18 Millionen Euro verpflichtet, Julian Weigl für damals läppisch wirkende 7 Millionen fest an die Borussia gebunden, Maximilian Wöber aus England ausgeliehen und Robin Hack sowie Fabio Chiarodia für die Kaderbreite geholt. Auf den ersten Blick las sich das Menü tatsächlich gut: an Honorat war Gladbach schon länger dran, Hack und Chiarodia kosteten nicht viel und hatten trotzdem ein gewisses Talent schon nachgewiesen, bei einer Leihe kann man ohnehin nicht viel falsch machen und Cvancara führte sich beim wilden 4:4 am ersten Spieltag in Augsburg direkt mit zwei Toren ein, inklusive verwandeltem Nachspielzeit-Elfmeter.

Dass die Trauben trotzdem hoch hängen würden, war gleichzeitig allen informierten Beobachtern klar. Schließlich hatten die Stammspieler Marcus Thuram, Ramy Bensebaini, Lars Stindl und Jonas Hofmann den Verein für in Summe 10 Millionen Euro verlassen. In Addition mit den stark verhandelten 15 Millionen festgeschriebener Ablöse für Jordan Beyer konnte Virkus im vergangenen Sommer aber immerhin 25 Millionen Euro und ein bisschen Extra-Kohle wegen der eingesparten Gehälter der einstigen Starspieler auf den Markt werfen. Für diese 25 Millionen kamen Cvancara, Honorat und blieb Weigl, der zuvor ausgeliehen war. 

Ein Riesen-Umbruch, den es nach Jahren der verpassten und durch Corona verhinderten Chancen unbedingt gebraucht hätte, sieht anders aus. Dass Borussia die Qualität der Herren Thuram, Bensebaini, Stindl und Hofmann nicht würde ersetzen können, ist nur logisch. Ob es dann aber Sinn ergibt, alleine 25 der knapp 30 Millionen Transferbudget in nur drei Spieler zu investieren, von denen einer sogar schon da war, ist fraglich. Der Saisonverlauf deutet jedenfalls darauf hin, als hätte es auch eine andere Herangehensweise im Transfer-Dschungel getan: ein deutlicherer Umbruch mit weniger teuren, dafür aber mehr Spielern aus dem Regal Robin Hack und Borussia stünde wohl auch nicht schlechter da als letzt.

Borussias Kaderwert liegt (laut Transfermarkt) zwar immer noch bei etwa 200 Millionen Euro – nur sieben Teams haben eine wertvollere Mannschaft. Es gibt gemessen an diesen Zahlen keinen Grund, weshalb Borussia nicht wie Heidenheim (!) oder Bremen (!) um Europa kämpfen könnte. Aber Zahlen, erst recht, wenn sie Kaderwerte abbilden sollen, sind abseits der Top vier fast jede Saison nur Schall und Rauch. Kleinigkeiten entscheiden in der Bundesliga darüber, wer auf Platz 7 und wer auf Platz 15 landet: Eine klare Spielidee, die richtige Mentalität, ein gemeinsamer Weg.

Das alles hat Borussia derzeit nicht. Die Spielidee wird seit der viel zu späten Rose-Entlassung jedes Jahr neu verhandelt. Auf den Sachsen folgte Adi Hütter. Ohne den Kader auf den Fußball des Österreichers anzupassen. Nach Hütter setzte Virkus auf Daniel Farke, der stark begann, aber nicht nur rhetorisch immer stärker nachließ und am Ende kaum noch Vertrauen im Verein hatte. Farkes Ballbesitzball stand im krassen Gegensatz zu Hütter, was zwar Christoph Kramer gefreut haben dürfte, aber die alten Leistungen aus der Rose-Zeit brachte keiner der Borussia-Fußballer zwei Spiele in Folge auf den Platz. Seit dieser Saison ist Seoane am Ruder, der zwar weniger dogmatisch als seine beiden Vorgänger agiert, eine klare Spielidee aber auch noch nicht erkennen lässt.

Die Mentalitätskeule, das Reizwort für manch einen allzu sehr taktikverliebten Fußballfreund und Spieler, wird immer dann geschwungen, wenn die Ergebnisse schlecht sind. Richtig ist, dass der fünfmalige Deutsche Meister in den vergangenen Jahren fast nie durch ein hohes Maß an Bereitschaft und dem unbedingten Willen, Spiele zu gewinnen, aufgefallen ist. Dass Leeds-Leihe Wöber ausgerechnet jetzt "Eier in Oliver-Kahn-Manier" fordert, wundert den Autor dieses Textes dann aber doch. In den vergangenen Wochen mangelte es den Borussen zuletzt zumindest nicht an der richtigen Einstellung, sondern eher an fußballerischer Idee und Qualität.

Und doch hat das Sky-Interview mit Wöber eine gewisse Aussagekraft. Der aus England geliehene Österreicher macht unfreiwillig das, was Angestellte von Borussia Mönchengladbach seit einigen Jahren immer dann machen, wenn die Kritik groß wird: Von den eigentlichen Problemen ablenken oder das Gegenteil von dem erzählen, was gerade Phase ist.

Darin ist insbesondere die Führungsriege der "Fohlen" ziemlich gut. Unvergessen, als Präsident Rolf Königs nach dem Abgang von Max Eberl deutlich sagte, dass man "extern" nach dem neuen Sportchef suchen werde. Einen Monat später wurde Roland Virkus vorgestellt und im Nullkommanix sogar mit der Eberlschen Machtfülle ausgestattet. Schön auch, als der gerade frisch beförderte Virkus 2022 von seinen Erlebnissen im Spanien-Urlaub sprach, um allzu große und sichtbare Grüppchenbildung innerhalb der Mannschaft zu rechtfertigen. Nach der einen Saison mit Schönrederei-Meister Farke verlief die aktuelle Spielzeit kommunikativ eher ruhig. Der Kipppunkt scheint aber jetzt dann doch schon wieder erreicht. Sportdirektor Nils Schmadtke verklärte die ambitionslose 0:2-Niederlage bei keinesfalls formstarken Leipzigern zu einem "guten Auswärtsspiel".

Schmadtkes Vorgesetzter Virkus hat sich größtenteils selbst aus der Öffentlichkeit befördert. Das muss kein Problem sein, sofern andere wichtige Leute im Verein die Lücke füllen würden. Cheftrainer Gerardo Seoane sitzt aber bei jeder Pressekonferenz alleine vor den Journalisten. Dabei könnte der öffentliche Austausch mit den Reportern auch eine Chance für die Vereinsführung sein, mal das ein oder andere nicht-tagesaktuelle Thema anzusprechen. Die meisten der 100.000 Mitglieder Borussias dürften sich jedenfalls freuen, wenn endlich ein Borussia-Weg skizziert würde, der mit Leben gefüllt ist. Virkus nimmt stattdessen etwa einmal pro Jahr in einem großen Interview mit der "Rheinischen Post" Stellung, das war's dann fast auch schon. Vom Präsidium ist größtenteils gar nichts zu lesen oder zu hören.

So auch in dieser richtungweisenden Woche für Borussia. Am Samstag kommt es zur besten Anstoßzeit um 15:30 Uhr zum ersten von mindestens drei Abstiegskampf-Spielen in dieser Saison. Der VfL Bochum, frisch gestärkt vom 3:2-Heimsieg gegen die Bayern, gastiert im Borussia-Park. Das Team von Trainer Thomas Letsch ist zuhause eine Macht (nur eine Niederlage, 1:3 gegen Borussia), agiert auswärts aber oft harmlos (nur ein Sieg, 2:1 in Darmstadt). Gleichwohl präsentierte sich der VfL ausgerechnet in den letzten beiden Spielen auf fremden Plätzen alles andere als schlecht: 1:3 in Dortmund, 1:1 in Frankfurt. Bleibt zu hoffen, dass der zweitsympathischste VfL der Liga sein Auswärtspunktekonto am Samstag nicht aufstockt.

Spannend wird, wie Seoane die Abwehr umbaut. Mit Ko Itakura und Nico Elvedi sind zwei Innenverteidiger gesperrt, Linksverteidiger Luca Netz ist zudem mehr als fraglich. Unabhängig von der Formation, dürfte vor allem Marvin Friedrich einen Platz in der Startelf neben Maximilian Wöber sicher haben. Gut möglich, dass wegen des wahrscheinlichen Ausfalls von Netz auch Fabio Chiarodia wieder ins Team rückt. Und sogar Tony Jantschke könnte für das Heimspiel gegen Bochum zur Option werden. Im Mittelfeld kann Seoane wieder den zuletzt angeschlagenen Florian Neuhaus einbauen, offensiv drückt dagegen weiter der Schuh: Alassane Plea fällt weiter aus, Tomas Cvancara ist auch noch weit weg von einer Rückkehr.

Immerhin spricht die Statistik seit dem Bochumer Wiederaufstieg vor drei Spielzeiten für Borussia: Bochum ist der Gegner, gegen den Gladbach die Hälfte seiner vier Auswärtssiege in den vergangenen zwei Jahren einfuhr und sich – das ist für Samstag die wichtigere Bilanz - in den vergangenen beiden Heimspielen immer schadlos hielt. Das sollte auch diesmal gelingen, wenn die Borussia den Abstiegskampf weiterhin mit einem gewissen Abstand verfolgen möchte.

Sechs Punkte Vorsprung sind es auf den 1. FC Köln, der auf dem Relegationsplatz rangiert. Dem "Effzeh" ist eher kein famoser Lauf in den verbleibenden zwölf Ligaspielen zuzutrauen und vor allem für Schlusslicht Darmstadt (zehn Punkte hinter Borussia) dürfte der Abstand zu groß sein. Was aber auch aus misslicher Lage heraus noch möglich ist, hat ausgerechnet der 1. FSV Mainz 05 (derzeit Vorletzter, sieben Punkte hinter Borussia) vor drei Jahren bewiesen: 22 Punkte aus den letzten 12 Spielen brachten den nicht mehr für möglich gehaltenen Klassenerhalt.

Gladbach selbst schaffte unter Favre 2011 noch 20 Punkte aus 12 Spielen – das eigene Beispiel sollte Borussia Warnung genug sein, um den Abstiegskampf zumindest in den nächsten drei Partien (Bochum, Mainz, Köln) ernst- und anzunehmen. Ansonsten werden die Gladbacher genau zum wichtigen Pokal-Viertelfinale in Saarbrücken am 12. März am Abstieg kratzen und sich womöglich am Ende der Saison auf dem 16. Tabellenplatz wiederfinden. Auf eine Relegationsschlacht mit dem HSV und Steffen Baumgart im Volkspark können wir aber alle gut verzichten.

Der SEITENWAHL-Tipp:

Claus-Dieter Mayer: "Die Seele brennt" oder eher "Angst essen die Seele auf"? Die Borussia zeigt Charakter und gewinnt in einem umkaempften Spiel letztlich mit 3:1!

Christian Spoo: Das erste von drei Spielen, die Borussia unbedingt gewinnen muss. Und trotzdem sind wir am Ende fast ein bisschen erleichtert, dass wir wenigstens einen Punkt geholt haben. 1:1.

Michael Oehm: Man weiß nicht so richtig, wo der Optimismus herkommen soll. Aber auf einmal läuft es doch. Hinten raus ein bisschen zittern, aber am Ende steht ein 2:1.

Michael Heinen: Den kleinen VfL trifft der Bayern-Fluch. Borussia verschafft sich mit einem mühsamen 2:1-Sieg etwas Luft im Abstiegskampf, darf sich auf diesen Erfolg aber nicht ausruhen.

Kevin Schulte: Borussia murmelt in der ersten halben Stunde einen rein und verhindert dadurch ein zweites Darmstadt-Spiel. Die Partie ist danach offen, die Abwehr mal wieder nicht sattelfest. Am Ende sitzt ein Konter zum 3:1-Endstand, der für das Auswärtsspiel in Mainz aber nichts Gutes bedeutet.