union berlin neu Das Gefangenen-Dilemma ist ein klassisches Szenario der Spieltheorie, das in seiner einfachsten Form in etwa so aussieht: 2 Komplizen begehen eine Tat, werden verhaftet und getrennt verhört. Außer illegalen Waffenbesitz gibt es aber keine Beweise, sodass nur eine geringe Haftstrafe von einem Jahr droht, wenn nicht einer von beiden gesteht. Die Polizei macht nun  beiden folgendes Angebot: Wenn du gestehst, dass ihr es getan habt, und dein Kumpel tut das nicht, kannst du als Kronzeuge ohne Strafe bleiben. Gestehst du nicht, aber dein Komplize tut es, musst du die volle Strafe von 20 Jahren absitzen. Gestehen beide gibt’s 5 Jahre Haft. Was sollte man tun?

Die Antwort scheint zunächst trivial: Einfach den Mund halten und beide kommen kollektiv am besten weg…bloß, was ist, wenn der andere darauf eingeht und plaudert? Ist es dann nicht vielleicht doch sicherer, selber zu gestehen, und damit das Risiko einer Höchststrafe zu vermeiden?

Die Situation scheint konstruiert, aber in Variationen erleben wir sie ständig: Wir können die Entscheidung treffen, die, wenn alle anderen sie auch träfen, eigentlich allen nützt. Oder aber wir können den anderen misstrauen und sagen „wenn schon einer die anderen übers Ohr zieht, dann sollte ich das besser sein“. Im Prinzip ist es zum Beispiel völlig klar, dass es zu unser allem Besten sein sollte, wenn jeder seine Steuern anständig bezahlt. Aber was, wenn die anderen das nicht tun und man am Ende als der einzige ehrliche Idiot dasteht? Ist es da nicht besser auch gleich alle möglichen Lücken, Tricks und Mogeleien auszuloten?

Was das mit Borussia Mönchengladbach zu tun hat? Nun, Julian Weigl hat dieser Tage wunderbar die Fußball-Variante des Gefangenen-Dilemmas beschrieben. Nach SkySport-Berichten mache der von Benfica Lissabaon ausgeliehene Spieler ein Verbleiben bei der Borussia nämlich davon abhängig, ob es für die nächste Saison einen konkurrenzfähigen Kader gäbe. Und ganz ähnlich denken vermutlich auch die Herren Neuhaus, Elvedi, Hofmann oder Plea. Würden all diese Spieler jetzt klare Statements geben, dass sie ihre nähere Zukunft bei Borussia zu sehen, dann wäre zumindest schon mal eine Grundlage für solch einen Kader da, aber jeder einzelne wird überlegen, was die anderen machen und am Ende nicht als das Dummerchen da stehen wollen, das mit Rollos Reste-Rampe in die zweite Liga absteigt. Weitere Gefangene in unserem Szenario sind potenzielle Neuzugänge, die natürlich auch gern wissen würden, auf was sie sich einlassen, wenn sie zur Borussia gehen. Konnte man in früheren Jahren zumindest die Aussicht international zu spielen bieten, so bleibt heutzutage vor allem der zu erwartende Kader im nächsten Jahr zur Beurteilung.

Nun ist das kein wirklich Borussia-spezifisches Problem, sondern tritt in gewisser Form bei vielen Teams zur Transferperiode auf, aber jetzt wo mit Sommer, Stindl, Thuram und Bensebain schon mal vier langjährige Pfeiler der Mannschaft weg sind (bzw sein werden) ist das Halten einer gewissen Rumpfelf umso wichtiger. Und sollte diese am Ende nur noch aus Tony Jantschke, Christoph Kramer und Patrick Herrmann bestehen, dann wäre das ziemlich katastrophal.

Die Tatsache, dass wir uns jetzt schon im Wesentlichen um die neue Saison Gedanken machen, hat vor allem auch damit zu tun, dass die aktuelle Situation sich langweilig wie selten für die Gladbacher zu diesem Zeitpunkt darstellt. Mit 12 Punkten Vorsprung auf den Relegationsplatz wagt selbst Redaktionskollege Spoo leise auf den Klassenerhalt zu hoffen. Nach oben wird vermutlich auch nicht mehr viel zu gehen, schon allein deshalb, weil man zuweilen den Eindruck hat, die Mannschaft traue sich kaum besser zu spielen, weil man damit ja den geringen Ambitionen des Trainers („graue Maus finde ich gar nicht so schlecht“) und des Sportdirektors widersprechen würde.

Wer den Gegenentwurf zur Gladbacher ambitionslosen Lustlosigkeit sehen will, muss nur auf unseren Gegner am Sonntag blicken. Laut https://de.statista.com/statistik/daten/studie/216031/umfrage/marktwert-der-bundesligamannschaften hat der FC Union Berlin nur 56.5% des Marktwertes der Borussia, steht aber mit 16 Punkten Vorsprung auf die Borussia zurzeit auf dem dritten Platz. Selten übertraf bei einer Mannschaft – ganz im Gegensatz zu Gladbach – das gesamte die Summe der Einzelteile so sehr wie bei Union zurzeit.  Nur zwei Siege aus den letzten 10 Pflichtspielen und das damit einhergehende Ausscheiden aus den Pokalwettbewerben könnte allerdings ein Zeichen dafür sein, dass den Unionern doch allmählich etwas die Luft ausgeht. Vor allem verschenkte Heimpunkte gegen Abstiegskandidaten wie Bochum oder Köln könnten dem Team von Urs Fischer am Ende im Kampf um die Champions-League teuer zu stehen kommen. Andererseits ist es kein Zufall, dass die Eisernen sich gerade gegen solche eher defensiv eingestellten Teams schwertun. Der FC Union liebt Gegner, die selber das Spiel machen wollen, vor allem, wenn diese auch noch defensiv anfällig sind. Kein Wunder also, dass die Borussia eines der Lieblingsopfer der Köpenicker ist und in 7 Liga-Spielen bislang nur einmal siegreich blieb.

Nach dem erfolgreichen Comeback von Julian Weigl kann Daniel Farke dabei so ziemlich aus dem Vollen schöpfen: von den Stammspielern wird nur Plea (Mandelentzündung) fehlen, während Elvedi nach einer Bänderdehnung) wohl wieder einsatzfähig ist. Sportlich geht es für die Borussia nur noch um kleinere Tabellenkosmetik, aber komplett unwichtig sind diese letzten 6 Spiele trotzdem nicht. Da geht es zum einen um den Trainer, der zu Beginn seiner Amtsperiode mit viel Wohlwollen von den Fans begleitet wurde, aber mittlerweile durchaus kritisch gesehen wird. Dass er nicht der erste Trainer ist, der mit dieser Truppe seine Probleme hat, ist dabei genauso wahr, wie das späte Wechsel, das Hängen an Spielern ohne Zukunft bei Borussia und das Schönreden von oft sehr durchwachsenen Spielen (vor allem die starke erste Halbzeit) von vielen Fans zu Recht kritisch gesehen werden. Ein positiver Saisonausklang könnte verhindern, dass Farke schon angeschossen als lahme Ente in die neue Saison geht.

Aber auch unser „Should I stay or should I go“-Gefangenen-Dilemma wird von den verbleibenden Spielen beeinflusst werden. Wenn die Mannschaft zum Ende mit einer kleinen Serie und ein paar überzeugenden Auftritten doch noch mal etwas Feelgood-Factor kreieren kann, könnte das den ein oder anderen doch zum Verbleib bewegen bzw. auch potenzielle neue Spieler überzeugen sich der Borussia anzuschließen.

Natürlich gilt das aber auch im negativen: Schenkt die Truppe den Rest der Saison lustlos ab (und das ist ihr leider voll zuzutrauen) kann es sein, dass die Mannschaft in den nächsten Wochen und Monaten schneller zerbricht als jemand „Werder Bremen!“ rufen kann. So befinden wir uns also in der seltsamen Saison, dass die Situation des Vereins kurzfristig komplett langweilig bis stabil ist, aber etwas längerfristig eben auch extrem heikel und gefährlich. Für uns Anhänger ist das Dilemma dabei, dass wir wie immer schuldlos mitgefangen wurden und dem Ganzen jetzt relativ hilflos zuschauen müssen.

Seitenwahl-Tipps:

Michael Heinen: Die Spielweise von Union liegt der aktuellen Borussia nicht. Von daher ist der mühsam erkämpfte Punkt beim 2:2 als Erfolg zu werten.

Christian Spoo: Wer es gut mit Borussia meint, freut sich jetzt schon über vier Spiele in Folge ohne Niederlage. Mit dem 1:1 gegen Union baut die Mannschaft diese „Serie“ aus.

Thomas Häcki: Die letzten Spiele geben zwar ein wenig Hoffnung, leider liegt Union den Fohlen so gar nicht. Nach dem 0:1 setzt sich die Tristesse fort.

Michael Oehm: Schlimmer als die Laufleistung der Borussia bei dem lustlosen 0-0 ist nur die Anstoßzeit.

Uwe Pirl: Borussia gegen Union - auf der einen Seite Euphorie, Einsatzfreude, Organisation. Auf der anderen Seite: Borussia. 0:2.

Claus-Dieter Mayer: Ist es der Frühling, das Flutlicht oder die Tatsache, dass es um kaum noch was geht? Wie auch immer: völlig unerwartet legt die Borussia ein richtig gutes Spiel hin und gewinnt am Ende verdient mit 3:1