leverkusen neu

Für Freunde einer frühen Standortbestimmung ist der Spielplan der Borussia zum Auftakt dieser Saison wie gemalt: nach dem Heimspiel gegen den Elfmeter-resistenten Rekordmeister aus München stehen nun anspruchsvolle Auswärtsaufgeben bei zwei weiteren Europapokalteilnehmern an. Dass gerade Spiele gegen Leverkusen oft besondere Bedeutung haben, liegt daran, dass Bayer und der VFL in den vergangenen Jahren oft nahe beieinanderlagen und somit jedes dieser Duelle als ein sogenanntes „6-Punkte-Spiel“ anzusehen ist. Hätte die Borussia im Vorjahr z.B. die zwischenzeitliche 2:1 Führung in der BayArena halten können, so wären Punktzahlen und Tabellenplätze zu Saisonende genau andersrum verteilt gewesen und die Gladbach könnten nun um den Einzug in die Europa-League-Gruppenphase spielen. Geht man zwei Jahre zurück, so war es genau der 2:1 Hinrunden-Sieg in Leverkusen, der letztendlich die Borussia in die Championsleague beförderte. So steht also am Samstagabend – auch wenn ein Spiel am zweiten Spieltag noch nicht wirklich vorentscheidenden Charakter hat – ein sehr wichtiges Spiel für die Borussia an. Nicht nur weil es gegen einen direkten Konkurrenten um europäische Plätze geht, sondern auch weil es großen Einfluss auf die Einordnung des Saisonstarts und der damit verbundenen allgemeinen Gefühlslage haben wird. Bislang ist man da auf Gladbacher Seite verhalten zufrieden. Die nicht einfache Pokal-Pflichtaufgabe in Kaiserslautern hat man glanzlos aber sicher bestanden und im Auftaktspiel gegen die Bayern hat zumindest die Anfangsphase aufgezeigt, wohin die Reise unter Adi Hütter gehen könnte. So werden die Münchener in der Liga selten unter Druck gesetzt und das macht Hoffnung auf mehr, auch wenn der Gegner das Spiel anschließend über längere Phasen dominieren konnte.

Auch der Gegner aus Leverkusen kann einen Pokalerfolg (3:0 bei Lokomotive Leipzig) und ein 1:1 in der Liga vorweisen, letzteres bei den im Vorjahr so überraschend starken Unionern aus Berlin. Im Vergleich zu den Vorjahren sind Leon Bailey und die Bender-Zwillinge nicht mehr dabei.  Die beiden letzteren hinterlassen eine Lücke in der Defensive, die man durch die Einkäufe des Ivorers Odilon Kossounou aus Brügge und zuletzt auch des jungen Ekuadorianers Hincapie zu füllen versucht. Auch auf den Aussenverteidigerpositionen hat man mit den Niederländern Baker und Frimpong  Spieler, die erst im Jahr 2021 zur Werkself gestoßen sind. Gut möglich daher, dass die drittbeste Defensive der Liga des Vorjahres zumindest vorrübergehend noch nicht so gut abgestimmt und damit anfälliger ist. Offensiv hat die Werksmannschaft allerdings einiges zu bieten, vor allem das vordere Mittelfeld mit Amiri, Demirbay und Diaby. Ob Zentralstürmer Patrick Schick seine starken Leistungen bei der Europameisterschaft bestätigen kann, bleibt noch abzuwarten. Die 9 Tore aus der Vorsaison sind sicher noch ausbaufähig.

Eine entscheidende Veränderung gab es bei den Leverkusenern – wie bei fast jedem Bundesligaverein in der oberen Tabellenhälfte – auf der Trainerposition. Gerald Seoane wurde nach Interimscoach Hannes Wolf (der Ältere) der Nachfolger von Peter Bosz. Interessanterweise galt der Schweizer im Frühjahr auch mal als Kandidat für die Borussia, bevor Max Eberl entschied, sein fetischhaftes Faible für die Schweiz lieber mit dem österreichischem Vorgänger Seoanes als YB Bern – Trainer zu befriedigen. Bestimmt ist Seoane keine schlechte Trainerwahl für Bayer, wobei man sich mittlerweile allerdings gar nicht mehr so sehr fragt, ob ein Trainer zu Leverkusen passt, sondern ob es überhaupt einen Trainer geben kann, zu dem Leverkusen passt. Denn bei allem Erfolg (regelmäßige internationale Qualifikation) und spielerischer Qualität, die der Verein nun schon seit Jahrzehnten vorzuweisen hat, verhärtet sich immer mehr der Eindruck, dass die finanzielle Sicherheit auch eine Kultur phlegmatischer Ambitionslosigkeit mit sich bringt. Jahr für Jahr deuten die Leverkusener an, was vielleicht möglich wäre, bleiben aber dann doch fast immer leicht unter den Erwartungen, egal wie der Übungsleiter gerade heißt.  Vielleicht ist das aber auch nur das, was passiert, wenn man so eine Wurst wie Rudi Völler als Sportdirektor oder Geschäftsführer hat.

Der Borussia soll das alles recht sein, denn es gibt ihr immer wieder die Chance, trotz finanzieller Nachteile auf Augenhöhe mit Bayer 04 zu agieren. Auf welche Akteure sie sich dabei in dieser Saison verlassen kann, ist allerdings noch nicht so ganz klar. Denis Zakaria soll zwar sehr wechselwillig sein, aber unterschrieben hat er noch nirgendwo und auch um Marcus Thuram gibt es bislang lediglich Gerüchte um einen Transfer zu Inter Mailand, aber nicht mehr. Zumindest für Max Eberl war aber bei der Pressekonferenz klar, dass diese Spieler, solange sie in Mönchengladbach unter Vertrag stehen, auch Kandidaten für die Startelf sind. Bleibt abzuwarten, ob Adi Hütter das auch so sieht oder lieber auf Personal setzt, das ihm auch längerfristig zur Verfügung steht. Die andere knifflige Frage, die der Ex-Frankfurt Trainer vor der Presse nicht beantworten wollte, ist ob der wiedergenesene Ramy Bensebaini am Samstag ins Team zurückkehren wird und wenn ja, ob dafür der so gut debütierende Joe Scally weichen muss oder aber gar eine Systemumstellung (3er-Kette?)  einen anderen Spieler aus dem Team kegelt. Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass es nach den zahlreichen Ausfällen wieder mehr Optionen für die Borussia gibt. Schon gegen Bayern konnte man mit den Einwechslungen von Thuram, Hofmann und auch Bennets in der zweiten Halbzeit noch mal nachlegen. Es wird sich zeigen, was die größere Konkurrenz für die bisherigen Startelfler Hannes Wolf und Patrick Herrmann bedeutet. Wie auch immer die Aufstellung im Detail aussieht, so bleibt zu hoffen, dass die Borussia weiterhin so konzentriert und engagiert spielt wie schon im sehr unterhaltsamen Auftaktspiel. Denn so wichtig Auswärtspunkte in Leverkusen sein mögen, ist es fast ebenso bedeutend, dass sich das Team wieder ein wenig den Kredit zurückholt, den es vor allem in der Rückrunde der Vorsaison verspielt hat. Mit einer „lange nicht empfundenen Leidenschaft“ habe SEITENWAHL das Spiel gegen die Bayern verfolgt schrieb Kollege Spoo in der Vorwoche. Es wäre schön, wenn wir ähnliches auch nach der Partie in Leverkusen konstatieren könnten.

 

Seitenwahl-Tipps:

Michael Heinen: Borussia bleibt unentschieden, wie der Saisonstart zu bewerten ist. Mit dem 2:2 in Leverkusen kann man aber vorerst gut leben.

Christian Spoo: Beide Teams spielten 1:1 zum Bundesliga-Auftakt. Das logische Resultat am Samstag also: 3:1 für Leverkusen.

Thomas Häcki: Mit dem 1:1 kann die Borussia gut leben, auch ohne Skorpion Tor.

Uwe Pirl: Nachdem uns Borussia am letzten Freitag ziemlich positiv überrascht hat, beweisen unsere Helden dieses Mal, dass noch viel zu tun ist. 1:3 in Leverkusen.

Claus-Dieter Mayer: Mit einem 4:2-Auswärtssieg kann die Borussia ein Ausrufezeichen setzen. Leider sollen es die letzten beiden Treffer von Marcus Thuram im Fohlentrikot bleiben.