Nach der 1:2-Heimniederlage gegen Abstiegskandidat Mainz 05 ist man schnell dabei, die enttäuschende Leistung auf eine sicherlich komplizierte und turbulente Woche zu schieben, die hinter Mannschaft und Verein liegt. Der Trainer selbst nahm das Ergebnis im Anschluss öffentlich auf seine Kappe, war es doch dessen mehr als umstrittene Wechselankündigung, die so viel Unruhe in die Borussenwelt gebracht hatte. Mit Blick auf die Leistungen der vergangenen Monate erscheint das als Erklärung aber zu einfach – waren Auftritte dieser Art durch die Saison hinweg doch eher die Regel als die Ausnahme.

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Es gibt im Sport und insbesondere im Fußball viele Floskeln, die das Geschehen auf dem Platz mit vermeintlich einfachen Worten erklären. Wie beim Spiel gegen die Mainzer kursieren dann schnell Schlagworte wie „Verwaltermentalität“, „fehlender Wille“ oder „blutleere Vorstellung“. Noch frisch ist das berühmt-berüchtigte „Momentum“, welches man je nach Spielverlauf und -ausgang für oder gegen die eigene Mannschaft auspendeln sieht. Auch der Autor kann sich davon nicht ganz freimachen, ist es doch durchaus verlockend, in maximal 280 Zeichen knackig und pointiert die Welt zu erklären. Und so sehr wir nicht erst seit der vergangenen US-Präsidentschaft wissen, dass Schlagworte und Großbuchstaben eben nicht ausreichen, um komplexen Zusammenhängen gerecht zu werden, so geben sie doch zumindest einen Eindruck davon, wie z. B. das Auftreten einer Mannschaft auf den Betrachter wirkt. Darauf angesprochen werden die sportlichen Verantwortlichen dies in der Regel erbost abtun („Scheißhausparolen“) und darauf verweisen, dass man wahlweise bei den Lauf-, Zweikampf-, Torschuss oder Ballbesitzwerten doch klar erkennen könne, dass die Mannschaft alles gegeben habe.

Wozu der ganze Vorlauf? Borussia hat es 2020/21 schon seit vor Beginn der Spielzeit mit besonderen Umständen zu tun. Eine Saisonvorbereitung, die aufgrund zahlreicher verletzter Basisspieler nur bedingt als solche bezeichnet werden konnte. Dreifachbelastung mit einer herausfordernden Gruppe in der Champions League. Frühe Gerüchte um die Zukunft des Trainers und vieler Leistungsträger. Verletzungs- und disziplinarisch bedingte Ausfälle einzelner Spieler. Ein offenbar überfälliges Kurz-Sabbatical des Managers im Winter. Und über allem steht die Corona-Pandemie, die nicht nur veränderte Trainings- und Reiseabläufe, sondern vor allem den fehlenden Fansupport im Stadion zur Folge hat. Manche dieser Umstände gelten für alle Teams, andere sind Borussiaspezifisch, doch kurzum: Allein mit Blick auf die äußeren Umstände ist es nachvollziehbar, dass nicht alles so funktionieren kann wie der Verein es sich bei einem optimalen Verlauf gewünscht hätte.

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Smoking für die Gala, Pullunder im Alltag

Und hier sind wir beim Thema Prioritäten und der Wirkung auf den Betrachter. Borussia kam etwas holprig in die Saison – was aufgrund der komplizierten Vorbereitung verständlich war – biss sich aber rein und holte die nötigen Punkte, um in der Bundesliga auf Tuchfühlung zu den Champions League-Plätzen zu bleiben. Im Wettbewerb selbst ließ man mit Achtungserfolgen gegen Madrid und Inter aufhorchen und zeigte in beiden Spielen gegen Donezk regelrechte Galas, unbestritten die fußballerischen Highlights der bisherigen Saison. Mit Beginn der Champions League-Wochen begann zugleich die Phase der starken Rotation, gerade gegen vermeintlich kleinere Bundesligateams wurden mitunter ganze Mannschaftsteile ausgetauscht. Dass eine Rotation aus Gründen der heute so oft zitierten Belastungssteuerung notwendig ist, steht vollkommen außer Frage. Die konkret gewählte Zusammensetzung der Startformation führte jedoch nicht selten zu einem so starken Qualitätsabfall, dass man auch gegen vermeintlich schlagbare Gegner selten die deutlich bessere Mannschaft war und nie wirklich souverän wirkte. Vorne blieb man oft harm- und ideenlos, hinten schlichen sich besonders gegen Ende immer wieder rätselhafte Konzentrationsschwächen ein. So brachte z. B. erst die Einwechslung des A-Angriffs beim 3:2 in Mainz die Wende, gegen Augsburg und Berlin reichte es nur zum Remis und gegen Hoffenheim gab man das Spiel nach Führung sogar noch ganz weg. Auch die Siege gegen Bielefeld und Bremen waren trügerisch, weil sie gegen eigentlich überforderte Gegner am Ende ins Ziel gezittert wurden.

Dagegen stehen tolle Auftritte in der Champions League, eine Energieleistung gegen Leipzig und die schönen Siege gegen Bayern und den BVB – Spiele, in denen Borussia durchweg präsent und konzentriert wirkte, sich um schnelles Umschaltspiel bemühte und trotz der Nackenschläge durch die Last-Minute-Gegentreffer in Mailand und gegen Real bis zum Schluss um jeden Meter zu kämpfen schien. Tolle Werbung für den Verein, für den Trainer und natürlich die Spieler selbst. Und dann dieser Kontrast zum offenbar öde gewordenen Bundesligaalltag, der durch die Heimpleiten gegen Köln und Mainz nun auch für den letzten offensichtlich wurden: Das fehlende Tempo, die Abwesenheit eines flüssigen Kombinationsspiel und der Eindruck auf den Betrachter, dass man den Erfolg nicht durch verstärkten Druck und erhöhte Intensität erzwingen will, sondern im immer gleichen Modus auf einen individuellen Geistesblitz oder einen Lucky Punch hofft.

Mainz war dafür eine Blaupause – hinten wirkte man mitunter unkoordiniert und ließ dem Gegner Räume, vorne versuchte man es größtenteils über lange Bälle von Ginter und Elvedi. Wahrscheinlich wird diese Form des Kick and Rush, die beim VfL zuletzt verstärkt zum Einsatz kam, bald von Dortmund aus die Welt der Taktikbegeisterten im Sturm erobern. Gegen tiefstehende Teams wie Mainz jedenfalls funktioniert dieses Mittel nur bei offensichtlichen Stellungsfehlern des Gegners, so gesehen bei der Plea-Chance von halbrechts kurz vor der Halbzeit. Wenn kombiniert wurde, gab es sofort Möglichkeiten wie bei Stindls Ausgleich nach schöner Vorarbeit von Lazaro und Hofmann. Doch daran wurde nur selten angeknüpft, außer dem Kapitän schienen nur Lazaro und im zweiten Durchgang Neuhaus hin und wieder bemüht, aus dem Trott des Ballhaltens und Verlagerns ausbrechen zu wollen. Mittelstürmer Plea wurde zur „ärmsten Sau“, da er die meisten Bälle außerhalb des Strafraums verarbeiten musste und keine Unterstützung durch nachrückende Spieler erhielt. Es entstand zum wiederholten Mal der Eindruck, dass Borussia keine wirkliche Freude am eigenen Spiel hat, sondern vornehmlich das (eingeplante) Ergebnis im Mittelpunkt steht. Sowas geht im Sport aber häufig schief, so auch hier. Borussia konnte oder wollte nicht mehr zusetzen, Mainz wechselte offensiv und rief in den letzten 15 Minuten nochmals alles ab. Und holte nach erneutem Durcheinander im Strafraum der Borussia den am Ende nicht unverdienten Auswärtssieg.

Da war sie also, die „Verwaltermentalität“ – ja, man hatte fast 70 % Ballbesitz, auch mehr Torschüsse, die bessere Passquote – aber es ist der fehlende Funke, den viele Anhänger derzeit im Spiel der Borussia so vermissen. Und das, obwohl man im Gegensatz zum Spiel gegen Köln in Bestbesetzung angetreten war. Mit international begehrten Akteuren wie Zakaria oder Thuram, die noch von der Bank kamen. Es ist zweifellos lange her, dass Borussia einen solch starken und breiten Kader hatte, trotz des Leistungsgefälles ab Kaderplatz 15 oder 16.

Aber kann eine Mannschaft – mag sie noch so viel Potential besitzen – Spielfreude und Rhythmus, ja vielleicht sogar das ominöse Momentum aufbauen, wenn sie über mehr als die halbe Saison selten in zwei aufeinanderfolgenden Spielen in der annähernd gleichen Formation aufläuft? Nicht zwei, drei Spieler mal eine Pause bekommen, sondern gleich eine ganze Abwehr- oder Angriffsreihe? Wenn die Highlights des Spielplans medial wie intern stark erhöht und das Alltagsgeschäft durch Worte und Taten an den Rand geschoben wird?

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Herberger und Favre lassen grüßen

Das fußballerische Selbstverständnis, in der vergangenen Saison der große Faustpfand Borussias in der Bundesliga, scheint jedenfalls schrittweise abhanden gekommen. Man wird als Beobachter das Gefühl nicht los, dass die Prioritäten in diesem Jahr andere sind. Borussia als Verein und seine Mitarbeiter haben sich durch das verdiente Erreichen des Achtelfinals der Champions League international Respekt erarbeitet und ins Schaufenster gestellt. Der Trainer und einige Spieler werden auch dank dieses Erfolgs lukrative Verträge bei neuen Arbeitgebern unterschreiben. Doch vorbehaltlich eines mittelgroßen Fußballwunders wird dieses Kapitel in den nächsten Wochen erledigt sein, und der DFB-Pokal bleibt nicht nur durch das brisante und schwere Los gegen Dortmund eine Wundertüte. Am Ende der Saison wird also die Frage stehen, ob der Preis für die Konzentration auf die Pokalwettbewerbe zu hoch gewesen ist.

So oder so möchte man – einfach gesagt – endlich wieder guten Fußball von Borussia sehen. Bei der vorhandenen Qualität der Mannschaft würde sich der Erfolg darüber unweigerlich wieder einstellen. Es ist also den sportlich (noch) Verantwortlichen zu wünschen, dass sie den Rest der Saison nicht wie bislang gefühlt „vom Ende weg“ denken, sondern Woche für Woche versuchen, das Spiel der Mannschaft wieder auf das Niveau zu heben, zu dem sie fähig ist. Ein Kennenlernen der Conference League sollte dann mindestens noch drin sein.

Und da sind wir dann doch wieder bei den Floskeln:

Wer hätte gedacht, dass die Formel „von Spiel zu Spiel denken“ nach seiner nahezu gebetsmühlenartigen Wiederholung in den letzten zehn Jahren ausgerechnet bei Borussia mal vergessen werden könnte?

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