Was der Punktgewinn bei Union Berlin für die Fohlenelf wert gewesen ist, wird vermutlich erst zum Saisonende feststehen. In der Schlussviertelstunde schien Borussia selbst nicht so genau zu wissen, ob sie mit vollem Risiko auf Sieg gehen oder sich mit dem historisch ersten Punkt ihrer Vereinsgeschichte in der Alten Försterei zufrieden geben möchte. In den letzten Wochen hatte Union bereits gegen Bayern und Frankfurt daheim punkten und gegen Leverkusen und Dortmund sogar gewinnen können. Das Remis als schlechtes Ergebnis zu werten, wäre daher eine ungerechtfertigte Geringschätzung für die positivste Überraschung dieser bisherigen Bundesligasaison – abgesehen vom Abschneiden der Schalker selbstverständlich.

Marco Rose hatte zu Beginn dieses erwartungsgemäß schwierigen Spiels auf seine zwei feinsten Fußballer verzichtet, indem er Florian Neuhaus und Lars Stindl durch Hannes Wolf und Markus Thuram ersetzte. Diese Rotation spricht dafür, dass er sich für das Pokalspiel am Mittwoch in Stuttgart einiges vorgenommen hat. Bei einem Weiterkommen wäre Borussia im Viertelfinale und nur noch drei weitere Siege davon entfernt, ihren Fans und ihrem Sportdirektor endlich mal wieder „etwas Blechernes“ präsentieren zu können. Schon in der Hinrunde wurde offenbar, dass Rose den Pokalwettbewerben – dort insbesondere der Champions League – mehr Gewicht einzuräumen scheint als dem tristen Meisterschaftsalltag. Perspektivisch eine diskutable Herangehensweise, da das erneute Erreichen eines Champions League-Platzes gerade in Corona-Zeiten das allerwichtigste Ziel des Vereins sein sollte. Mit Blick auf die zahlreichen von anderen Vereinen umworbenen Spieler wäre es enorm wichtig, wenn sich Borussia „ein Stück weit“ in den Top4 der Liga etablieren könnte.

Trotz des gewonnenen Punktverlustes in Berlin befindet sich die Mannschaft weiter in Schlagdistanz zu diesem Ziel - punktgleich mit Platz 4 und nur einen Zähler hinter dem Tabellendritten. Mit Frankfurt, Wolfsburg und ja, auch Union Berlin, haben gleich drei Konkurrenten um die internationalen Plätze den Vorteil, international nicht vertreten zu sein. Dies ist in diesem kurz getakteten Spieljahr ein gewaltiger Vorteil. Rose muss zwangsläufig mehr rotieren als seine Trainerkollegen und damit sowohl immer wieder auf Qualität als auch auf Eingespieltheit verzichten. Immerhin hat er das Glück, in dieser Saison bislang erfreulich wenige Verletzte beklagen zu müssen.

In den kommenden Wochen stehen zwei vermeintlich leichte Heimspiele gegen Köln und Mainz sowie zwei vermeintlich schwere Auswärtsspiele in Wolfsburg und Leipzig an. Da der Heimvorteil in Pandemiezeiten nicht mehr wirklich besteht, darf man weder zuhause sichere 6 Punkte einplanen noch davon ausgehen, auswärts unbedingt sieglos bleiben zu müssen. Borussia kann an einem guten Tag jeden Gegner schlagen, aber an einem schlechten selbst gegen Mainz Federn lassen. Zuletzt präsentierte sie sich immerhin wieder etwas stabiler als über weite Strecken der Hinrunde. Die bislang erfolgreichen Spiele 2021 waren zwar nicht alle so glorreich wie es die Ergebnisse aussagen und es gab in jeder Partie schwächere Phasen, wo der Erfolg auf der Kippe stand. Insgesamt scheint die Mannschaft aber wieder in die Spur gefunden zu haben und auf einem guten Weg zu sein, um sich mindestens einen Platz im oberen Tabellendrittel sichern zu können. Das muss in jedem Fall weiter das Ziel sein. Ob es dann am Ende erneut zum „Titelgewinn“ Champions-League-Platz reicht? Dafür wird in den verbleibenden 15 Bundesliga-Spielen vieles gut laufen müssen.

Zunächst geht es am Mittwoch aber einmal mehr nach Stuttgart, wo zuletzt etwas glücklich mit 2:1 gewonnen werden konnte – wenngleich Bibiana Steinhaus zum Ende der Partie einen anderen Eindruck vermittelte. Es ist zu erwarten, dass Borussia weitgehend in Bestbesetzung auflaufen wird, also mit Neuhaus und Stindl für Thuram und Wolf. Letzterer geriet in Fankreisen zuletzt immer stärker in die Kritik, weil er sich auch nach einem halben Jahr immer noch nicht wirklich als Verstärkung präsentiert hat. In Berlin wirkte er leicht verbessert und bemüht. Er hatte ein paar ordentliche Aktionen, die sich aber weiterhin mit einigen überhasteten und wenig ergiebigen Momenten abwechselten. Marco Rose scheint ihm den Sprung zum Topspieler weiter zuzutrauen und auf sein Urteil sollte vertraut werden können. Andererseits gibt es immer wieder Fußballer, die von ihrem jeweiligen Trainer weit positiver eingeschätzt werden als vom Rest der Welt, und die später unter anderen Übungsleitern kaum noch von sich reden machen. Altgedienten Borussen-Fans fällt hier direkt Holger Fachs Faible für Enrico Gaede ein. Und vergessen Sie Hrgota nicht. Das ist klar.

Doch erinnert sei an die Entwicklung eines Jonas Hofmann, der vor einigen Jahren ähnlich kritisch beäugt wurde und sich inzwischen zu einem der wichtigsten Borussen entwickelt hat. Unabhängig davon, wie der weitere Weg von Hannes Wolf ausfallen mag: Es ist grundfalsch und einzig mit der Emotionalität unseres schönen Sports zu rechtfertigen, ihn zum alleinigen Schuldigen für unverhoffte Punktverluste zu erklären.

Der Mensch verfällt allzu schnell in die unschöne Eigenart, sich Sündenböcke zu suchen, die ihm den Umgang mit Enttäuschungen erleichtern. Für ein verlorenes Fußballspiel bietet sich in aller Regel eine Fülle von Gründen, die für den menschlichen Verstand zu komplex sind, um sie vollständig nachvollziehen zu können. Da fällt es leichter, dies an einzelnen Personen festzumachen, wo sich oft z. B. Torhüter und Trainer – oder eben Neuzugänge wie Wolf anbieten, die bislang unter ihren Erwartungen bleiben. Noch viel schlimmer trifft es meist die Schiedsrichter – sowie in modernen Zeiten den abgrundtief bösen VAR – die sich schon deshalb als perfekte Sündenbocke anbieten, weil sie nicht einmal dem eigenen Verein angehören, sondern dem „Scheiß DFB“.

Keine Frage: Genau wie bei Wolf gibt es auch an den Schiedsrichtern vieles zu kritisieren. Angefangen von der mangelhaften Transparenz und Außendarstellung vieler Vertreter bis hin zu diversen Entscheidungen, die selbst mit objektiven Maßstäben nur schwer nachzuvollziehen sind. Damit wären wir wieder beim vergangenen 2:1-„Sieg“ in Stuttgart und Bibiana Steinhaus, die an jenem 16. Januar 2021 einen rabenschwarzen Tag erwischte und in der Nachspielzeit eine verhängnisvolle Fehlerkette auslöste. Solche Fehler werden immer passieren, solange menschliche Wesen Entscheidungen treffen. Dank des VAR passieren sie inzwischen weit seltener als zuvor, werden aber „gefühlt“ deutlich stärker wahrgenommen und durch die sozialen Medien viel breiter diskutiert als die weit zahlreicheren Fehler vergangener Zeiten.

Aus dem einen Fehler einer Frau Steinhaus abzuleiten, das System VAR habe versagt, ist rational betrachtet genauso plausibel als würde Mann dies als Beleg dafür anbringen wollen, Frauen wären anhand ihres Exempels als SchiedsrichterInnen gescheitert. Das Gegenteil ist der Fall: Bibiana Steinhaus gehörte in den vergangenen Jahren zu den Besten ihrer Zunft – zumindest solange sie auf dem Feld stand. Damit sollte sie ihren Geschlechtsgenossen unbedingt den Weg geebnet haben, bei entsprechender Qualifikation denselben erfolgreichen Weg zu gehen. Im Kölner Keller fiel Steinhaus dagegen des Öfteren negativ auf, was dafür spricht, dass ihr diese Rolle nicht so sehr zu liegen scheint.

Dass sich Borussias Fangemeinde nach den bitteren Punktverlusten im Schwabenland erregte und ihr nicht nur Gutes wünschte, gehört zum Fußball dazu und ist akzeptabel, solange dabei gewisse Grenzen eines Grundrespekts erhalten bleiben. Im Marketing wird davon gesprochen, dass sich unzufriedene Kunden siebenmal häufiger beschweren als dass sich zufriedene Käufer nachträglich äußerten. Im Fußball liegt dieses Verhältnis noch um ein Vielfaches höher, weil hier viel stärkere Emotionen im Spiel sind. So entsteht eine „gefühlte Wahrheit“ mit dem stetigen Blick durch die subjektive Fanbrille. Es gibt keinen Verein, deren Fans nicht zutiefst davon überzeugt wären, sie würden überdurchschnittlich oft durch vermeintliche Fehlentscheidungen benachteiligt. Beispiele hierzu finden sich leicht – selbst wenn diese bisweilen Jahre zurück liegen mögen und die Entscheidungen teilweise von objektiven Experten und Medien als „hart, aber vertretbar“ bewertet wurden. Rein statistisch ist es schwierig zu erklären, wie alle Vereine stärker benachteiligt werden können als der Durchschnitt. Objektiv kommen sämtliche Experten zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Zahl der Fehlentscheidungen in den letzten Jahren durch den VAR deutlich zurückgegangen ist. Was letztlich aber zählt, ist die gefühlte Subjektivität des Einzelnen und von dieser ist er nur schwer abzubringen. Es lebt sich besser in der süßen „Gewissheit“, eine böse, verschwörerische Macht stecke hinter all den erlittenen Enttäuschungen. Damit werden die Schiedsrichter, VAR, DFB und letztlich auch Hannes Wolf am langen Ende leben müssen.

Ändern ließe sich dies nur, wenn sich irgendwann die Fankultur aus Leipzig oder Hoffenheim durchsetzt und wenn Emotionen sowie Fanatismus durch Klatschpappen und gesittetes Amüsement ersetzt werden. Hopp bewahre uns vor diesem Szenario: Zum Fußball wie wir ihn kennen und lieben gehören Emotionen, Fanbrillen, Wutausbrüche und Beschimpfungen elementar dazu. Sie sollten stets ein gewisses Maß nicht überschreiten und dürfen keinesfalls in Gewalttätigkeiten ausarten wie sie z. B. Marcel Reif propagiert. Sie sind aber ein unverzichtbarer Bestandteil dessen, wofür so viele Millionen Menschen diesen Sport und speziell ihren Verein lieben und leben.

Michael Heinen: Ein Punkt in Berlin ist letztlich genauso ordentlich wie er es vor zwei Wochen bei den ebenfalls schwierig zu spielenden Stuttgartern war. Am Mittwoch muss es nun einen Sieger geben. Tipp: Dieser heißt am Ende leider VfB statt VfL, da sich die Schwaben im Elfmeterschießen glücklich durchsetzen.

Christian Spoo: Union spielte wie erwartet, Borussia fand zu wenige Mittel, ohne wirklich zu enttäuschen. Ein Punkt, mit dem man leben muss. Stuttgart hat seine Heimschwäche rechtzeitig vor dem Pokalspiel abgelegt. Dass es keine ganz einfache Aufgabe wird, hat Borussia schon vor zwei Wochen in der Liga erfahren müssen. Und leider gibt es im Pokal ab dem Achtelfinale auch den VAR. Tipp: Stuttgart setzt sich mit 3:2 nach Verlängerung durch.

Thomas Häcki: Gegen einen erwartet gut organisiert spielenden Gegner trennte man sich am Ende leistungsgerecht mit 1:1. Andere Spitzenclubs hatten hier deutlichere Probleme. Nun geht es wieder nach Stuttgart. Tipp: In einem abwechselungsreichen Spiel mit vielen Torchancen setzt sich die Borussia mit 3:2 durch.

Christian Grünewald: Schwere Kost gegen erwartet kämpferische Unioner. Verdient nimmt Borussia einen Punkt mit, bleibt aber vorne oft zu ungenau und lässt auch nach dem Ausgleich die letzte Zielstrebigkeit vermissen. Tipp: Wenn es entgegen dem Ligaspiel gelingt, den VfB dauerhaft in der Defensive zu beschäftigen, geht es für Borussia eine Runde weiter. 

Claus-Dieter Mayer: Selten hat ein Spiel so schön demonstriert welch ein Unfug das oft berufene “Momentum” ist.  Denn die Höhenflieger aus Gladbach (davor 4 Siege und ein Unentschieden) und die am Boden liegenden Berliner (zuletzt 3 Niederlagen) lieferten sich letztendlich doch genau das ausgeglichene Spiel, das rationalere Geister, die nicht an esoterischen Psycho-Quark glauben, schon unter der Woche vorhergesehen hatten (vgl. Seitenwahltipps im Vorbericht vom letzten Donnerstag). Interessant wird nun, ob der Trainer Neuhaus und Stindl für den Pokal oder erst fürs Derby gegen Köln geschont hat. In Stuttgart gibt’s auf jeden Fall genau den glücklichen 2:1-Sieg den man kürzlich eigentlich auch schon sicher gehabt hätte, wenn Bibiana Steinhaus die Anwendung des VARs nicht ad absurdum geführt hätte.

Mike Lukanz: Borussia bleibt ungeschlagen in 2021, das ist die positive Meldung. Ebenso, dass sie im Kampf um die begehrten Champions-League-Plätze weiter gute Karten hat. Das Remis in Berlin zeigt, dass es in dieser Saison am Ende auf jeden Punkt ankommen wird. Der einfachere Weg in den Europapokal führt indes über den DFB-Pokal-Sieg, was noch den schönen Nebeneffekt hätte, mal wieder den Briefkopf um einen Titel erweitern zu können. In Stuttgart wird sich Borussia ähnlich schwertun wie zuletzt in der Liga, setzt sich am Ende aber knapp mit 1:0 durch.