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HSVZwei der traumhaftesten Momente des Spiels waren auch im Fernsehen gut zu erkennen: Jene herrliche Ballstaffette in der 39. Minute, als der Ball über Bradley, Bobadilla und Colautti zu Marko Reus gelangte, der Torhüter Rost mit einem überlegten Lupfer zum 1:1 überwand. Und jener brillant getretene Freistoß, mit dem Zé Roberto kurz nach Wiederanpfiff die Hamburger erneut in Führung brachte und alle zarten Gladbacher Blütenträume jäh zu beenden schien. Aber man musste im Stadion sein, um das Ergebnis eines ganz speziellen Traums zu sehen.

 

Man schrieb die 34. Minute, da leuchtete auf der Anzeigentafel der HSH Nordbank Arena ein statistischer Zwischenstand auf. Er wies für die Hausherren 65% und für die Gäste 45% Ballbesitz aus. Da das zusammen 110% ergibt, hatten die Tafelbediener offenbar während eines Teils der ersten Hälfte von einer Partie mit mehr als einem Ball geträumt. Das war ein visionärer Gedanke, der in eine Woche passte, in der Ökonomen Prognosen für die künftige Neugestaltung des Fußballsports vorgelegt hatten. Mehr als ein Ball hätte den Gastgebern vielleicht dabei geholfen, das Gladbacher Tor ernsthaft in Gefahr zu bringen. Mit bloß einem Ball gelang ihnen das nur selten.

 

Tatsächlich demonstrierten die Gastgeber in der ersten Hälfte das, wofür Hans Meyer den Begriff „Scheinüberlegenheit“geprägt hat. Es ist ja erstaunlich, wie hartnäckig sich der Glaube hält, ein Mehr an Ballbesitz, ob nun von 65% oder nicht, bedeute zwangsläufig Überlegenheit. Dabei hat der Sportwissenschaftler Roland Loy gezeigt, dass statistisch nur in jedem dritten Fall mehr Ballbesitz zum Sieg führt. Ein aktuelles Indiz dafür, wie fragil die Verbindung ist, liefert der deutsche Meister VfL Wolfsburg, der in der Ballbesitztabelle der vergangenen Saison am Ende auf Rang 15 landete. Es kommt eben nicht darauf an, wie oft man den Ball hat, sondern was man damit anfängt. Und anfangen konnten die in den letzten Wochen so starken Hamburger mit dem Ball diesmal erstaunlich wenig. Zahlreiche Querpässe waren gut für die Ballbesitzstatistik, aber schlecht für das eigene Torkonto, denn echte Gelegenheiten entstanden so kaum jemals.

 

Als die Gastgeber mit ihrer ersten und für eine ganze Weile einzigen ernsthaften Torchance durch Trochowski in Führung gingen, schien das Spiel noch den vorher allseits erwarteten Verlauf zu nehmen. Dass es anders kommen könnte, deutete sich in der 37. Minute an, als Levels nach Bobadillas feinem Zuspiel mit Macht aufs Hamburger Tor marschierte, von Jarolim aber kurz vor dem Strafraum umgerissen wurde. Ironischerweise muss man in der Rückschau Schiedsrichter Aytekin fast dankbar dafür sein, dass er zur Überraschung aller auf Freistoß für den HSV entschied. Denn die groteske Fehlentscheidung schien die vorher defensiv gut organisierten, nach vorne aber oft zu unentschlossenen Borussen aufzuwecken, die erst mit wütenden Protesten und zwei Minuten später mit dem Ausgleichstreffer antworteten.

 

Eine beliebte Reporterphrase ist die vom psychologisch günstigen oder eben ungünstigen Zeitpunkt für Tore. Man sollte das nicht zu ernst nehmen, denn eigene Treffer sind ja eigentlich zu allen Zeitpunkten willkommen und gegnerische zu keinen. Aber mit einem frisch erzielten Ausgleich in die Kabine zu gehen, dürfte die Regeneration schon erleichtern. Optisch wurde das in diesem Fall dadurch deutlich, dass die Borussen lange vor den Gastgebern wieder auf dem Platz darauf warteten, wann es endlich weitergehen würde.

 

Dass dieses neu erwachte Selbstbewusstsein selbst durch die erneute Führung des HSV kurz nach Wiederanpfiff keinen dauerhaften Knacks erlitt, gehört zu den vielen Überraschungen dieser Partie. Denn die Gladbacher, denen die Hamburger Presse vorher und kurioserweise teils selbst noch hinterher eine Mauertaktik andichten wollte, spielten im Verlauf der zweiten Hälfte immer mutiger nach vorne. Borussias Höhenflug zur Beginn der Saison hatte einiges mit Juan Arango zu tun, und der erste Sieg nach nur einem Punkt aus den letzten sieben Spielen hatte es auch. Nach gut einer Stunde verpasste der Venezuelaner selbst den Ausgleich nur knapp, kurz darauf legte er Thorben Marx eine sehr gute Torchance auf. Es passte ins Bild, dass Arango nicht nur die Flanke zu Dantes Ausgleichstreffer schlug, sondern auch die exzellente Vorarbeit zu Rob Friends Siegtor leistete.

 

Natürlich hatten die Borussen auch das Glück, das man für einen Auswärtssieg bei einem Spitzenteam braucht: Glück, dass der Schiedsrichter nach Bradleys Attacke gegen Pitroipa keinen Strafstoss verhängte; Glück, dass HSV-Trainer Labbadia die eigene Abwehr mutwillig schwächte, indem er Jerome Boateng eine geschlagene halbe Stunde über den Platz humpeln ließ, bevor er ihn per Auswechslung erlöste.

 

Dennoch hatten sich die Gladbacher den sensationellen Erfolg am Ende redlich verdient: durch die Moral, die auch der zweite Rückstand nicht brechen konnte, aber auch, weil sie selbst nach dem 2:2 noch weiter den Weg nach vorne suchten. Letzte Woche, beim rheinischen Derby, hatten die Kölner jede sich bietende Gelegenheit des Zeitspiels genutzt und selbst aussichtsreiche Konterchancen nur mit wenigen Spielern verfolgt. Das war diesmal ganz anders, denn anstatt das Spiel zu verzögern, stürmten die Borussen immer wieder mit der halben Mannschaft in Richtung Frank Rost. Und am Ende leuchtete auf der Anzeigetafel das richtige Ergebnis in den Abendhimmel, während Fans und Spieler ausgelassen den ersten Gladbacher Sieg an diesem Ort seit fünfzehn Jahren feierten. Man glaubte zu träumen.