Die Borussia mag nicht mehr die Strahlkraft haben wie noch vor wenigen Jahren, aber für einen fulminanten Saisonbeginn ist man immer noch gut. Nachdem das 4:4 in Augsburg im Vorjahr vor allem wegen des Achterbahnfahrt-artigen Spielverlaufes für Aufsehen sorgte, war es am Freitagabend gegen Leverkusen insbesondere der ungewollte Auftritt des VAR, der noch mehrere Tage für Gesprächsstoff sorgte und auch von uns bei Seitenwahl eingehend thematisiert wurde.
„Wenn das woanders passiert, schreibt ihr aber nichts dazu“ ist so ein klassischer Kommentar, den man dann oft von außerhalb der Gladbach-Bubble um die Ohren gehauen bekommt. Und das stimmt natürlich auch: wären genau die gleichen Dinge (Eingriff des VAR obwohl keine klare Fehlentscheidung vorlag) beim Spiel Freiburg-Stuttgart passiert, hätte es keinen extra Artikel bei Seitenwahl diesbezüglich gegeben. Dafür hätten dann die Freiburger oder Stuttgarter Fanmedien das Thema aufgegriffen und das völlig zu Recht. Die Handhabung des VARs bleibt ein allgemeines Ärgernis im Bundesligafußball (und nicht nur da) und muss dringend überdacht werden. Und nein, wenn in der zweiten tibetanischen Liga nächste Woche die Handspielregel absurd ausgelegt werden sollte, gibt es vermutlich keine besonderen Artikel von uns dazu, sollte ähnliches am Samstag in Bochum passieren, vielleicht doch. So ist das mit Fanmedien, diese Ambivalenz muss man aushalten können.So diskussionswürdig und ärgerlich es war, dass ein zweifelhafter VAR-Eingriff der Borussia ein Unentschieden gegen den deutschen Meister gekostet hat (bzw. eigentlich waren es sogar zwei zweifelhafte Eingriffe, die den völlig verdienten Sieg gekostet haben), so gut tut man in Gladbach daran, all das schnell zu vergessen und die Aspekte des Spieles näher zu betrachten, die nicht in der Willkür irgendwelcher Gestalten im Kölner Keller liegen. Denn auch die konnten nichts dafür, dass wieder mal ein kompletter Aussetzer von Elvedi das 0:1 einleitete und dass die Gladbacher Abwehr beim 0:2 wie ein Hühnerhaufen wirkte. Und während Missbrauch und Fehler des VAR der Borussia im Saisonverlauf vermutlich in etwa so viele Punkte kosten wie bringen, werden diese defensiven Defizite dem Team jedes Mal nur schaden. Was das angeht, ist es etwas beunruhigend, dass gerüchtweise die Topverstärkung für die Abwehr Max Wöber sein soll, der ja Teil der Defensive war, die in der Vorsaison 67 Gegentreffer zuließ. Noch beunruhigender sind die Gerüchte über einen möglichen Abgang von Ko Itakura nach Eindhoven, womit die Chaos-Abwehr des Vorjahrs sogar noch geschwächt würde. Mit einer Gegentorzahl jenseits der 70 wäre man dabei übrigens klarer Abstiegskandidat, denn soviel Dusel wie der HSV im Jahre 2014, der mit 75 Gegentoren und 27 Punkten noch so gerade in der Relegation den Klassenerhalt erreicht, kann man kaum erhoffen.
Aber natürlich sollten man den Teufel nicht an die Wand malen, vielleicht steigern sich die Herren Scally, Elvedi, XY und Netz noch zu einem formidablen Abwehrbollwerk. Das Spiel gegen Leverkusen zum Maßstab zu machen ist auf jeden Fall ein bisschen unfair denn der Borussia ist schon länger nicht mehr auf einer Ebene mit dem Werksverein: +2,-3, -19, -7, -56 lauten die Punktdifferenzen mit Leverkusen in den letzten 5 Jahren. +3, +8, +1 sind die Vergleichswerte gegen den nächsten Gegner Bochum, seitdem dieser wieder in der Bundesliga spielt. Zumindest auf die Vorsaison bezogen, ist das jetzt Borussias Kragenweite und will man beweisen, dass man eigentlich zu höherem geschaffen ist (wie das formulierte Ziel eines einstelligen Tabellenplatzes ja vermuten lässt), so hat man am Samstag eine gute Gelegenheit dazu.
Mit welcher Formation man an der Castroper Straße antreten wird, hängt auch ein bisschen davon ab, was sich in den letzten Tagen und Stunden vor Transferschluss noch tut. Dass Nico Elvedi (auf seine Art und Weise) unverkäuflich ist, scheint man ja resignierend akzeptiert zu haben, wie die Aufnahme in den Mannschaftsrat zeigt. Sollte Itakura kurzfristig doch noch abgehen, würde dies die schon angesprochenen Defensivmöglichkeiten noch weiter einschränken (Friedrich wäre vermutlich der kurzfristige Ersatz). Mit Manu Koné hat man eigentlich schon nicht mehr gerechnet. Sollten die Transferpläne erneut scheitern, so stünde die Borussia vor einem gewissen Luxusproblem im Mittelfeld. Eigentlich ist der Franzose nicht eingeplant, seine Position mit Weigl, Reitz und Sander auch schon gut abgedeckt, aber wenn er gesund und in Form ist, kann man ihn auch nicht wirklich auf die Bank setzen. Auf Grund der Kurzfristigkeit würde Koné in Bochum vermutlich nicht in der Startelf stehen, aber für die folgenden Spiele hätte Seoane die Qual der Wahl im defensiven Mittelfeld. Ja, und dann gibt es da noch Florian Neuhaus … (tiefer Seufzer!) … zu dem man vermutlich eher mal einen eigenen Artikel schreiben sollte. Wir halten hier nur mal kurz faktisch fest, dass er, auch wenn er bleibt, im Moment keine Rolle in den Plänen des Trainers zu spielen scheint. Ansonsten kann man wohl die Startelf vom Eröffnungsspiel erwarten. Reitz scheint im Moment knapp die Nase vor Sanders zu haben, Pléa mag nicht überzeugt haben aber Hack hat wohl noch Trainingsrückstand und Ngoumou … ist halt Ngoumou.
Der Gegner aus Bochum gilt neben den Aufsteigern als Abstiegskandidat Nr1. Wenn man nur hauchdünn den Klassenerhalt geschafft hat und dann mit Stöger, Bernado, Asano und Riemann eine komplette Achse von Leistungsträgern verliert ist das nicht verwunderlich. Auf der anderen Seite hat man den einst Unabsteigbaren auch in den vergangenen Jahren nie etwas zugetraut, aber irgendwie haben sie es doch immer wieder geschafft und selbst den Rekordmeister aus München zweimal böse überrascht. Die Hoffnungen ruhen dabei besonders auf dem neuen Trainer Peter Zeidler, der aus St. Gallen nach Bochum kam. Diesem wird nachgesagt, ein offensives vertikales Spiel (ich schreibe hier plump aus dem Kicker ab) zu bevorzugen und in der Tat haben sich die Bochumer bei ihrem ersten Spiel Leipzig durchaus nicht versteckt und lagen dort (nach Understat.com) am Ende nach xGoals sogar knapp vorne.
Die Gladbacher Auftritte in Bochum verliefen zuletzt sehr unterschiedlich. Im Herbst 2022 ließ man sich unter der Leitung von Daniel Farke zumindest in der ersten Hälfte komplett den Schneid abkaufen und verlor verdient mit 1:2. Im Vorjahr landete man mit einem überzeugenden 3:1 den ersten Saisonsieg, bei dem vor allem Alassane Pléa eine Galavorstellung lieferte. Diese beiden Spiele zeigen ganz gut, worauf es ankommen wird: Auf dem Papier war Borussia damals wie heute den Bochumern klar überlegen (Marktwerte laut Transfermarkt: 159m vs 57m), aber vieles liegt auch an der Einstellung. Und gerade auf diesem Gebiet hofft die Borussia in diesem Jahr mit den getätigten Transfers einen Schritt nach vorn gemacht zu haben und sowohl Kevin Stöger als auch Tim Kleindienst konnten dies in den ersten beiden Pflichtspielen auch bestätigen. Die eigentliche VAR-Tragödie am Freitag war weniger der späte Elfer für Leverkusen, als vielmehr das verweigerte Kleindienst-Tor in der ersten Halbzeit. Wann zuletzt hatte man einen Gladbachspieler gesehen, der ein Tor so wollte, wie der Ex-Heidenheimer in dieser Szene. Der Flugkopfball auf Grasnarbenhöhe hatte das Potenzial, eines DER ikonischen Bilder der jüngeren Gladbach-Geschichte zu werden, gleich neben Sommers Ein-Finger-Stop auf der Linie gegen Bayern im Herbst 2019. Schade! Aber immerhin gab diese Szene wie auch insgesamt die beiden bisherigen Pflichtspiele (zweimal nach Rückstand zurückgekommen) leise Hoffnung, dass es in Sachen Mentalität und Resilienz Fortschritte bei der Borussia gibt. Noch sollte man aber nicht zu optimistisch sein, denn zum einen reichen 2 engagierte Spieler nicht aus, wenn der Rest des Teams aus Trantüten besteht und zum anderen gab es auch in den Vorjahren Phasen (die ersten Spiele unter Farke, der Herbst unter Seoane), in denen man glaubte Teamspirit und Widerstandsfähigkeit erkennen zu können, bevor das alles in einer jeweils grausamen Rückrunde wieder komplett verschwand.
Am Samstag im Ruhrstadion hat die Borussia auf jeden Fall die Gelegenheit, ewig nörgelnde Skeptiker wie Seitenwahl zu widerlegen und den neuen Geist im Team zu bestätigen. Dann wird auch endlich das zugige Transferfenster geschlossen sein und wir alle ein wenig schlauer sein, was für eine Borussia wir in den nächsten Monaten erwarten können.
Seitenwahl-Prognose
Claus-Dieter Mayer: Die gute Nachricht ist, dass die Borussia erneut einen Rückstand gut wegsteckt, die schlechte, dass es trotzdem nur zu einem 1:1 reicht.
Michael Oehm: Ist dem Braten so richtig zu trauen? Nachdem man Leverkusen gestern gegen Jena herumstümpern sah, relativiert sich ein wenig die eigene Leistung. Und Bochum war in Leipzig weit stärker als gedacht. Kommt noch einer, der weiterhilft für hinten, dann 1:1. Sonst 3:0 für den anderen VfL.
Michael Heinen: Voriges Jahr haben die Siege gegen den kleinen VfL Borussia vor dem Abstieg bewahrt. Darauf sollte man sich in dieser Saison besser nicht verlassen. Das Hinspiel endet nämlich mit 2:2.
Christian Spoo: Bochum ist defensiv dank Sissoko besser organisiert. Dazu macht de Wit im ersten Spiel direkt den Unterschied. So geht auch das erste Auswärtsspiel für Borussia knapp verloren. Frau Anne Castroper freut sich über einen 2:1-Sieg.
Mike Lukanz: Borussia nimmt die guten Ansätze aus dem ersten Spiel mit, fügt etwas Trotz hinzu und lässt sich auch nicht von VARs aus der Ruhe bringen. 2:1-Auswärtssieg inkl. eines Stöger-Tores, der natürlich pflichtbewusst eine Entschuldigungsgeste in seinen Jubel integrieren wird.
Uwe Pirl: Nachdem der VAR ordentlich Staub aufgewirbelt hat, bleibt er in Bochum stumm. Borussia gewinnt 2:1.