Vor dem Spiel wurde dann nicht mehr gepfiffen. Drei, vier Meter weiter hinten, da pustete jemand seinen Unmut gegen den Trainer noch ganz feste in die Finger, aber das waren nur noch vereinzelte Zweifler. Julian Weigl war vor drei Wochen noch zum Buhmann erkoren worden, auch davon war nichts mehr zu hören an einem urplötzlich frühlingshaften Sonntagabend. Denn Borussia war vor dem Spiel seit vier Spielen ungeschlagen in der Liga, ist es nach dem Spiel jetzt seit fünf und hat dabei drei Heimsiege und zwei Auswärtsunentschieden eingefahren. Diese überaus positive Statistik verschweigt zwar ein desolates Pokalaus nach 80minütiger Überzahl, aber sie ist auf die Liga gesehen mehr als ordentlich und hat die Borussia sogar auf Rang sechs geführt. Man hat jetzt die viertwenigsten Gegentore der Liga; das klingt allerdings weniger eindrucksvoll, wenn man hier dann nicht verschweigt, dass man diese Errungenschaft mit Mainz 05 und dem Gegner des vergangenen Abends teilt, dem FC St. Pauli, obwohl man dem sogar zwei Tore einzuschenken wusste.
Der also fast gänzlich unbepfiffene Trainer stellte zum dritten Mal die gleiche Startelf auf, allerdings hielt die nicht lange, denn der zu seinem einhundertsten Bundesligaspiel für die Borussia eingesetzte Scally rasselte gleich zu Beginn mit Philipp Treu aneinander, agierte in der Folge etwas kopflos und musste schließlich gegen Stevie Lainer ausgetauscht werden. Trotzdem hielt die Abwehr an diesem Abend schließlich schon zum vierten Mal in der Saison in der Bundesliga ein zu null, so oft hatte man es in der gesamten letzten Saison geschafft, gegentorlos zu bleiben. Und nachdem man zuletzt so oft gegen Aufsteiger schlecht ausgesehen hatte, hielt man sich diesmal schadlos. Richtig gut sah es allerdings auch nur in der ersten Hälfte aus, in der Plea mit dem Knie treffen durfte; man hofft, er schafft es noch in die kicker-Torschützenliste, denn dann wird man sehen, ob das extra mittels Asterisk aufgeführt wird, wie das Neuvillesche Handspiel seinerzeit. Außerdem schenkte Tim Kleindienst dem bedauernswerten Vasilj schon zum dritten Mal binnen acht Tagen einen Treffer ein. St. Pauli hatte zwar schon in dieser ersten Hälfte mehr Ballbesitz, konnte aber überhaupt keine Gefahr entwickeln, und hatte viel Glück, nicht höher zurückzuliegen, nachdem Plea Vasilij schon umkurvt hatte, aber zu wenig Druck und Höhe hinter den Ball brachte, woraufhin Nemeth den Ball noch abgrätschen konnte. Aber ansonsten war das ein äußerst passabler aber wenn auch zumeist wenig spektakulärer Vortrag der Borussia, der an bessere Zeiten noch unter Hecking erinnerte. Der hätte sicherlich auch Rocco Reitz ins Achtung gestellt, als er sich an der Strafraumgrenze etwas zu elegant aus einer kniffeligen Situation herauszuwinden versuchte. Und obwohl Reitz letztlich Erfolg hatte, tat das auch Heckings Nachnachnachnachfolger Seoane, der überhaupt auffällig mehr Engagement an der Seitenlinie als in der ersten Saisonphase zeigt.
Dass es aber ein schmaler Grat zwischen Spielkontrolle und Zittern ist, zeigte Borussia in der zweiten Hälfte. Zwar war es weiterhin auf Seiten der Gäste eine bemerkenswerte Harmlosigkeitsdarbietung, die ganz prima zu der pazifistischen Grundeinstellung weiter Teile der Anhängerschaft passte, aber das Offensivspiel der Borussia geriet ebenfalls merklich ins Stocken. Stattdessen sorgte man selbst für etwas Gefahr fürs eigene Tor, zunächst einmal durch Friedrich mit einer Grätsche gegen Guilavogui, die ganz haarscharf am Elfmeter vorbeiführte. Den nicht zu geben, war allerdings die richtige Entscheidung, denn zum einen berührte Friedrich den Ball, zum anderen fand der entscheidende Kontakt auch außerhalb des Strafraumes statt. Eine weitere Gelegenheit gestattete Nikolas (überhaupt etwas wackeliger als zuletzt) den Gästen, als er etwas übermotiviert und ohne Chance auf dem Ball aus dem Fünfer hechtete und Glück hatte, dass das nicht bestraft wurde. Trotzdem war nicht so ganz ersichtlich, warum man Pauli so viel Spielkontrolle gestattet und so selten in der Lage war, sich in die gegnerische Hälfte zu spielen. Denn wenn das gelang, wurde es fast immer auch gleich gefährlich. Auf der anderen Seite kam Pauli erst gegen Ende zu ernstzunehmenden Chancen, aber als Wahl die beste davon leicht kläglich liegen ließ, war allen Beteiligten wohl klar, dass hier nichts mehr anbrennen würde.
Anzumerken ist noch, dass bei den eingewechselten Spielern Florian Neuhaus sich ordentlich einfügte und Stöger sogar an gefährlichen Szenen beteiligt war, und dieses Mal auch an welchen vor dem gegnerischen Tor. Aus der Startelf verdiente sich der auffällig souveräne Friedrich und das gallig agierende Mittelfeldzentrum Bestnoten. Gladbachs Offensive wirkt weiterhin auf einem hohen Niveau, vor allem aber längst nicht nur Tim Kleindienst ist hier dafür verantwortlich, dass man – noch eine Statistik – bei der Anzahl der Torchancen auf Platz 5 noch vor dem BVB geführt wird. Und die Chancen, dass man diese Saison mit Themen wie der Relegation nichts mehr zu tun haben wird, sind jedenfalls deutlich gestiegen.
Auch bei der Betrachtung der viel schwächeren zweiten Hälfte bleibt also festzuhalten, dass Borussia selbst hier letztlich die besseren Chancen hatte, und dass am Ende ein unstrittig verdienter Heimsieg steht. Nichtsdestotrotz bleiben noch genug Fragen offen. Hier drei Beispiele: Wird Pauli am Saisonende auch auf dem Relegationsplatz einlaufen, den sie im Moment belegen, und ist das dann gut oder schlecht? Hilft es dem ehrenwerten Bemühen um Kinderrechte, wenn Borussia in sackhässlichen Schlafanzügen statt Trikots aufläuft? Ist das Ruder wirklich dauerhaft herumgerissen und gewinnt die Borussia in dieser Saison sogar noch einmal zwei Spiele hintereinander?
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