Der nicht ganz ernstzunehmenden „Berechnung“ eines britischen Psychologen zufolge ist der dritte Montag im Januar der deprimierendste Tag des Jahres: dunkel, kalt, naß, trübe. Übertragen auf den Fußball könnte man die These formulieren, der dritte Spieltag des Jahres sei der deprimierendste Tag für Borussia. Das gäbe Anlaß zu Hoffnung, denn dann wäre mit der Niederlage gegen Union Berlin der Tiefpunkt erreicht. Leider spricht vieles dafür, daß der Abwärtstrend anhalten wird. Der Verein befindet sich im langfristigen Sinkflug und wirkt zunehmend führungslos. Die Hauptgründe sind Handlungsarmut und Überalterung der zentralen Führungsgremien, aber auch sportferne Probleme und um sich greifende Wohlfühloasen in einzelnen Bereichen, vor allem im „Team Sport“.

Nach dem Augsburg-Spiel vertraten wir die Ansicht, die Mannschaft habe ihren Zenit überschritten. Selbst unter Berücksichtigung des heute grotesk anmutenden 5:0-Pokalsieges gegen die Bayern und eines kurzen Aufflackerns von Einsatz und Energie in der Bundesliga hat die Entwicklung seitdem unsere These vollauf bestätigt. Die Mannschaft hat die nächste Stufe der strukturellen Auflösung erreicht und zerfällt weiter in die damals aufgelisteten Einzelteile. Das ist schlecht, aber nicht fatal. Man kann es als überfällige Korrektur und Chance für einen Neuanfang interpretieren, zumal die Ursachen in weiten Teilen außerhalb Borussias zu suchen sind. Vor allem der coronabedingte Einbruch des Transfermarktes hat das langjährig erfolgreiche Geschäftsmodell des Ein- und Verkaufens zermalmt und ein ungesundes Klima des kölschen „Immer weiter so, wird ja gutgehen“ in der Mannschaft entstehen lassen – ein realitätsferner Wohlstandsbauch, der in den vergangenen Monaten laut geplatzt ist. Im besten Fall könnte dies der Beginn eines Heilungsprozesses werden.

Dies würde allerdings koordiniertes strategisches Handeln der Entscheidungsträger, den Willen zu Umgestaltung und Weiterbau auf dem noch existierenden starken Fundament sowie Führungskraft voraussetzen. Nichts davon ist erkennbar. Wir wissen aus vielen Gesprächen mit Borussen innerhalb und außerhalb der Vereinsstrukturen, daß diese Gefahr sehr wohl erkannt und – meist hinter vorgehaltener Hand und im kleinen Kreis – diskutiert wird. In nach außen sichtbaren Konsequenzen schlägt sich dies bislang aber nicht nieder, und das wirkt besorgniserregend. Noch ist nämlich Zeit zum Handeln. Doch woher könnte dieses Handeln kommen, wenn neben der großartigen und stets bezaubernden FohlenWelt am Borussia-Park gerade ein zweites, größeres Museum entsteht, bevölkert von etlichen verdienten Alt- und Uralt-Borussen, die wie lebende Exponate aus einer anderen Zeit wirken und zunehmend weniger Antworten auf die Fragen der Zeit finden?

Beginnen wir beim Präsidium. Es ist und bleibt das Vermächtnis dieses Präsidiums, daß wir überhaupt noch einen Fußballverein in der Bundesliga haben, um den wir uns sorgen dürfen. Punkt. Ohne die Vision, akribische Arbeit und den langen Atem dieses Präsidiums und der von ihm eingesetzten, fachlich untadeligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wären wir jetzt eine Art MSV Duisburg, der gerade gegen den Abstieg in die vierte Liga kämpft. Unglücklicherweise bleibt die Zeit nicht stehen. Rolf Königs ist im 81. Lebensjahr, Siegfried Söllner tragischerweise verstorben, Hans Meyer genießt längst andernorts seinen Ruhestand und wird im Laufe des Jahres 80, und nur Rainer Bonhof (ab nächstem Monat 70) strahlt scheinbar immerwährende Jugend aus: ein de facto-Präsident, dessen offizielle Benennung überfällig ist. Dieses Herren-Trio mit zusammen stolzen 228 Lebensjahren wird umkränzt von 16 Männern in Aufsichts- und Ehrenrat, allesamt genauso untadelig wie zumeist wenig taufrisch. Das wirft viele zukunftsgerichtete Fragen auf bezüglich Führungskraft und Willensstärke (und dabei ignorieren wir an dieser Stelle noch die offensichtliche Frage, ob es in diesem Verein außerhalb von Vorzimmern und Empfang eigentlich keine Frauen gibt; „siebziger Jahre live“ könnte man auch an dieser Stelle anfügen).

Kommen wir zum Sportdirektor – ein ebensolcher historischer Glücksfall und neben Stephan Schippers der eigentliche Architekt des Erfolges über mehr als ein Jahrzehnt hinweg. Im Gegensatz zum Herrn der Bilanzen hat sich der sportliche Leiter jedoch angreifbar gemacht. Es fällt schwer, hier die richtigen Worte zu finden, denn jede Kritik an Max Eberl sollte sich eigentlich erübrigen. Leider ist das inzwischen der falsche Ansatz, in zweierlei Hinsicht.

Zum einen hat der Sportdirektor einige Entscheidungen getroffen, die im Einzelfall vertretbar sind, die aber nicht den gewünschten Ertrag gebracht haben und in der Kombination schlecht sind. Die Kopie des Leichtathletik-basierten Fußball-Ersatzes Marke RinderBrühe ist krachend gescheitert, und das überlange Festhalten an Marco Rose stellte dabei nur die sichtbarste Fehleinschätzung dar. Weder Ginter noch Zakaria zu einem ordentlichen Preis zu verkaufen oder zur Vertragsverlängerung zu überzeugen kann passieren, zumal das in diesen Umständen schwierig war und ist, stellt jedoch einen gewaltigen Schlag ins Kontor dar. Hinsichtlich Integrität und Führungsanspruch gravierender wirkt das – so erscheint es nach außen hin – Balancieren auf der Trennlinie zwischen dienstlich und privat, das inzwischen mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Sedrina Schaller eine weitere Wendung erlebt hat. Der Herr bleibt, die Dame geht: sowohl die vergangenen Monate als auch diese zu primitive Art der Problemlösung hinterlassen nichts als verbrannte Erde. Mit welcher moralischen Autorität wird Max Eberl zukünftig einem Breel Embolo erklären können, daß man nicht in Party-Badewannen Basketball schaut, anstatt einen professionellen Lebenswandel zu führen?

Zum zweiten – und das empfinde ich als mindestens ebenso großes Problem – hat sich in mehr als einem Jahrzehnt die Routine eingebürgert, den Sportdirektor alles, selbst Kleinkram, persönlich begutachten und entscheiden zu lassen. Verständlicherweise hat Max Eberl aber hierzu keine Zeit, was zu Innovationsstau und vermeidbaren Verzögerungen führt. Zur Erinnerung: Borussia ist ein basisdemokratischer Verein mit flachen Hierarchien und offenem Zugang für Mitglieder und Fans, die gute Ideen haben. So habe ich diesen Verein immer erlebt, und ich erlebe ihn in den meisten Bereichen noch weiterhin so. Das bedeutet aber auch, daß jeder auf seiner Position maximale Verantwortung nehmen und Entscheidungen treffen sollte, mit Blick auf das Gesamte und Mut zur Gestaltung. Hiervon ist mancherorts stets weniger zu spüren. Mitarbeiter im Team Sport sind offen für neue Ideen, freundlich, konstruktiv, doch viel zu oft fällt schnell der Satz „Das muß dann der Max entscheiden.“ Drei Monate später, auf Nachfrage: nichts. Hier wird einem Einzelnen viel zu viel Macht eingeräumt, freiwillig, ohne Not. Für Neuerung und Fortschritt ist das tödlich, und es macht sich jetzt doppelt schwer bemerkbar, wo der starke Mann angezählt ist. Wer sucht zusammen mit ihm nach Lösungen, wer vermag ihn zu überzeugen, ihn einzunorden, ihn in die Spur zurückzubringen? Wichtiger noch: Wer entlastet ihn, wer springt in die Bresche? Max Eberl hat jedes Recht auf eine Zeit, in der es weniger gut läuft, ohne ihn gleich komplett infrage zu stellen. Dann müßten aber andere einspringen und handeln. Davon ist nichts zu sehen.

Kommen wir zu anderen Bereichen, kurz, sonst wird das hier ein abendfüllendes Programm. Die Nachwuchsarbeit Borussias war und ist von zentraler Bedeutung. Die coronabedingten Einschränkungen bedeuteten gerade für die Jugend einen katastrophalen Schlag. Hinzu kommt, daß manche Jahrgänge des Nachwuchses nicht die Qualität haben, die Borussia sich erhoffte, von Ausnahmen in jüngeren Altersklassen abgesehen. Dies führt auch dazu, daß mancher Spieler zu schnell in höhere Altersklasse durchströmt, weil weiter oben die Qualität fehlt. Daß aber U23 und U19 seit Jahren über die Funktion sehr mittelmäßiger Durchlauferhitzer nicht hinwegkommen und wiederholt Probleme auf der Trainerposition hatten und haben, ist schlecht.

Ein Beispiel: Vom Übungsleiter der U23 muß man erwarten können, daß er jederzeit als Trainer der Profimannschaft einspringen könnte: Diese Qualität muß ein Bundesligaverein auf dieser Position verfügbar haben. Heiko Vogel hat einen beeindruckenden Lebenslauf, doch wird ihm intern dieser Sprung dem Vernehmen nach nicht zugetraut. Es ist die Basisregel jeder Personalplanung, daß der Ersatzmann jederzeit den Inhaber des nächsthöheren Postens ersetzen können muß: Das Kollektiv ist alles, was zählt, nie der Einzelne. Im Team Sport ist dieses Prinzip außer Kraft, an mehr als einer Stelle. Hier herrscht Diskussions- und vielleicht auch Handlungsbedarf.

Ähnlich wichtig wie die Nachwuchsarbeit ist für Borussia das Scouting. Die Ausstattung hierfür und die internen Abläufe sind beeindruckend. Dank langjähriger hervorragender Arbeit konnte der Verein neue Märkte für sich öffnen und einen steten Zufluß interessanter Spieler garantieren. Es ist jedoch bemerkenswert, daß zeitgleich einige Regionen weggebrochen sind, in denen Borussia lange Jahre sehr erfolgreich nach Talenten gefischt hat, aus denen allerdings seit (zu) langer Zeit wenig bis gar nichts mehr kommt. Die meisten machen weiterhin hervorragende Arbeit, aber nicht alle. Jeder Einzelne muß sich daher die Frage gefallen lassen, mit welchem Einsatz und mit welcher Perspektive er noch seinen Job ausübt. Das gilt natürlich genauso gut für alle Bereiche, und wir erwähnen hier das Scouting lediglich als Beispiel, um gerade anhand eines besonders erfolgreichen Teiles des Vereins aufzuzeigen, daß zu langes Schmoren im eigenen Saft und Überalterung ein generelles Problem sind.

Bis jetzt sprachen wir noch nicht über den Trainer, aus gutem Grund. Nach 23 Pflichtspielen hatten auch wir uns mehr von Adi Hütter erhofft: eine Handschrift, einen erkennbaren Spielstil, das Formen einer Struktur. Hier fehlt derzeit noch einiges. Dennoch ist der Trainer das kleinste Problem, das der Verein momentan hat. Alle oben angeführten Faktoren haben negativen Einfluß auf die Mannschaft, und sie datieren ohne Ausnahme von vor dem Sommer 2021. Kontinuität ist zurecht ein zentraler Begriff am Niederrhein, und eine Trainerdiskussion ist in dieser Spielzeit unnötig.

Was Borussia hingegen braucht, und zwar schnell, sind zwei Tage, in denen alle Entscheidungsträger zusammen an einen ruhigen Ort fahren, die Handys ausschalten und Führungsstruktur, Entscheidungsfindung und organisatorische Abläufe bis ins Detail auseinandernehmen und verbessert zusammensetzen. Wir sind gegen jede Form von Diskriminierung, sicher auch gegen Altersdiskriminierung, doch reden wir hier in weiten Teilen nicht über Fünfziger, sondern über ein Altersprofil mit inzwischen biblischen Dimensionen, das alle Abläufe zunehmend bremst und verzögert. Es haben sich über Jahrzehnte hinweg Strukturen geformt, die zu unbeweglich, entscheidungsschwach und ineffizient sind. Das mag in Jahren des Aufschwungs tolerabel sein, ist in Zeiten zunehmend größerer Geldnöte aber verheerend.

Es wäre weise, für diese Analyse externe Experten hinzuziehen, aber auch Personen, denen man langfristig ein aktives Engagement im Verein zutraut. Ja, diese sind sehr schwierig zu entdecken, und die Suche läuft bereits. Beispielsweise ist es viel einfacher, einen halbwegs ordentlichen Trainer zu finden als – sagen wir mal – einen Sportdirektor. Eine Liste mit Namen in der Schublade gehört aber zur Grundausstattung einer Unternehmensführung. Es ist keine Überraschung, daß jemand wie Martin Stranzl auf dieser Liste steht. Ich würde ihn auf Dauer lieber als Sportdirektor denn als Trainer sehen, aber das ist meine Privatmeinung. Gespräche auch mit weiteren Kandidaten sind vonnöten, denn diese Vorgänge sind langfristiger Natur.

Zeitgleich muß die Grundsatzdiskussion geführt werden, wo dieser Verein hinwill: Paßt man die Ambitionen dem abgespeckten Budget an oder geht man neue Wege, etwa mit externen Investoren? Ich bin entschieden gegen letzteres, aber selbstverständlich gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Eines jedoch sollte selbst den Verfechtern einer vorsichtigen Öffnung für starke Investoren deutlich sein: Holt man sich so jemanden an Bord, dann wird als erstes all das abgeklopft, was wir in diesem Beitrag thematisiert haben: mangelnder Durchfluß an Mitarbeitern und Ideen, Überalterung der Entscheidungsträger, Abwesenheit von Frauen in Führungsgremien. Hinzu werden der digitale und ökologische Wandel sowie noch das ein oder andere kommen, das wir uns an dieser Stelle vorerst ersparen. Wie auch immer man diese Punkte im Einzelnen sehen mag, man muß sie mit Tatkraft angehen. Ansonsten wird aus dem führungsschwachen Sinkflug schnell ein führungsloser Sturzflug, der in unteren Ligen enden wird.