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Ein regelmäßiger Leser von SEITENWAHL (und vergleichbaren Seiten) wird vermutlich nur eine Antwort kennen: Sehr wichtig! Aber ist Fußball – wie unser ehemaliger SEITENWAHL-Kollege Joachim Schwerin hier meint – wirklich momentan wichtiger als zuvor? Ist er nicht! Fußball ist und bleibt eine Nebensache, vielleicht eine wichtige Nebensache, Fußball ist aber nicht existenziell. Deshalb kann die von Joachim Schwerin formulierte These auch nicht unwidersprochen bleiben.

Zunächst aber erst einmal Zustimmung, wo der Artikel Zustimmung verdient: Richtig ist, dass die derzeit von Staatenlenkern gern gebrauchte Kriegsrhetorik vollkommen Fehl am Platze ist. Unter anderem auch aus dem Grund bin ich – auch wenn ich die derzeitige Kanzlerin nie gewählt habe – froh, momentan eine eher nüchtern und rational agierende Person an der Spitze zu sehen, die nicht zu Überhöhungen neigt. Richtig ist auch, dass jedenfalls im Osten dieses Landes die Krise der 90er Jahre deutlich tiefere Einschnitte hinterlassen hat als z.B. die Finanzkrise der Jahre 2008ff.  Insofern mag es vielleicht zutreffen, dass die Einschätzung der derzeitigen Situation als „schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ verfrüht ist. Andererseits kann man diesbezüglich zu bedenken geben, dass man das Ausmaß einer Krise schwer einschätzen kann, wenn man sich noch mittendrin befindet und nicht weiß, ob die Talsohle schon erreicht ist. Deshalb werden wir wahrscheinlich erst hinterher wissen, ob es die größte Krise seit … „wann auch immer“ … war. Zudem trifft es dieses Mal alle und eben nicht nur einige noch nicht blühende Landschaften, die aus dem Westen querfinanziert werden können.

Schwierigkeiten habe ich mit dem Artikel vor allem dort, wo er das Funktionieren von Politik beschreibt. Ich teile nicht den Widerwillen dagegen, dass sich Politik von Fachleuten – hier von Virologen, Epidemologen und sonstigen Gesundheitsexperten – beraten lässt. Wenn diese Fachleute ziemlich einhellig die Auffassung vertreten, dass die Infektionswelle mit drastischen Maßnahmen eingedämmt und verlangsamt werden muss, um die Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitswesens aufrechtzuerhalten und Zustände zu vermeiden, wie wir sie derzeit in Italien beobachten müssen, glaube ich das erstmal. Und wenn Politik diesen Ratschlägen folgt, ist das für mich verantwortungsvolles Regieren und kein Zeichen dafür, dass das Regieren den Virologen überlassen wird. Genauso wenig empfinde ich es als Kennzeichen eines totalitären Systems, wenn ein Politiker zum Ausdruck bringt, dass er eine Entscheidung nach Abwägung verschiedener Möglichkeiten für „alternativlos“ halte. Und was wäre denn in der derzeitigen Situation die Alternative? Alles laufen zu lassen, auf dass es „der Wirtschaft“ gut gehe? Zunächst einmal würde das schon aufgrund unserer Einbettung in eine globalisierte, vernetzte Weltwirtschaft gar nicht funktionieren, wenn um uns herum alle Länder dieser Welt eine Vollbremsung machen. Darüber hinaus ist es angesichts der im Raum stehenden Ansteckungsszenarien vollkommen unrealistisch, keine Wirtschaftskrise zu bekommen. Oder meint jemand ernsthaft, dass die Leute bei - im worst case - 50 Mio. Corona-Infizierten in Deutschland (das entspräche etwa der schlimmstenfalls prognostizierten Ansteckungsrate von 60%), davon 2,5-5 Mio. (5-10%) schwereren Fällen, die eine Behandlung im Krankenhaus bräuchten, und ca. 500.000 Todesfällen (1%) innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne weiterhin brav zur Arbeit gingen, business as usual betrieben und nach Feierabend fröhlich im Biergarten sitzen bzw. samstags Fußballspiele besuchen würden?

Hier kommen wir zum Eigentlichen: Joachim Schwerin überschätzt die Bedeutung des Fußballs. Fußball ist Unterhaltung, Fußball ist Spaß, Fußball stiftet Identitäten, Fußball bietet ein Ventil für Emotionen. Fußball ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Alles richtig. Aber schon im Normallfall strukturiert Fußball nicht meine Woche – jedenfalls dann nicht, wenn ich keine Schreibaufgaben auf SEITENWAHL habe. In Krisenzeiten hingegen verschieben sich die Prioritäten. Man besinnt sich auf das Wesentliche – z.B. den Einkauf von Klopapier, Nudeln und Hefe. Man bemerkt, welche der Luxuriositäten unserer Gesellschaft eigentlich total entbehrlich sind. Profifußball gehört jedenfalls im Moment dazu. Keiner der Fußballfans in meinem Umfeld befasst sich im Moment mit dem Wohl und Wehe von Borussia Mönchengladbach, Waldhof Mannheim, des KSC oder der TSG Hoffenheim (letztgenannte sind die Vereine, mit denen ich in meinem räumlichen Umfeld konfrontiert werde). Keinen beschäftigt wirklich ernsthaft die Frage, ob und wann die Saison zu Ende gespielt wird oder nicht. Keiner wacht nachts auf und denkt darüber nach, ob Zakaria nach der Saison verkauft wird oder auch nicht. Die kollektive Stimmung ist momentan einfach nicht danach, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.

Die kollektive Stimmung hat aber momentan eine sehr feine Wahrnehmung für Individuen und Kollektive, die wirtschaftliche Partikularinteressen über das Gemeinwohl stellen. Solange die Zahl der Infizierten weiter steigt und solange deshalb die bestehenden Beschränkungen in unser aller Alltagsleben aufrechterhalten werden, braucht es „Brot und Spiele“ nicht. Jedenfalls keine Spiele. Sollte sich der Profifußball in dieser Situation entscheiden, die Saison fortzusetzen und ohne Zuschauer zu Ende zu spielen, wird dies in erster Linie als wirtschaftliche Entscheidung zur Sicherung der ausstehenden Fernsehgelder gewertet werden. Dann wird es nicht dabei bleiben, das System Profifußball mit dem immer weiter spielenden Orchester auf der Titanic zu vergleichen. Das passendere Bild wäre in diesem Fall eher das des ungebremst auf einen Eisberg zurasenden Schiffs, wobei der Eisberg die ohnehin immer weiter zunehmende Entfremdung zwischen dem System Profifußball und seinem Publikum symbolisiert.  

Kommt es anders, bekommen wir die Pandemie in den Griff, sind wir vielleicht an einem Punkt wie China oder Südkorea jetzt, wird niemand etwas dagegen einwenden, sich wieder mit Spaß dem Fußball zuzuwenden. Denn wir können Fußball nur genießen, wenn wir halbwegs darauf vertrauen dürfen, gesund zu bleiben.