Er habe die Mitte gestärkt. Das antwortete Helmut Kohl gegen Ende seiner Laufbahn auf die Frage, was er sich als Fazit seines Wirkens wünschen würde. Bekenntnisse zur politischen Mitte sind Legion: Sie gelte es zu vertreten, zu stärken, wiederzugewinnen, ihr eine Stimme zu verleihen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Die Rhetorik der Mitte ist kleinster gemeinsamer politischer Nenner. Er eint Vertreter von CSU, CDU, FDP, SPD und Teilen der Grünen. Von Vertretern der Linken oder der AFD hört man sie zwar seltener, als extremistisch (was ja logisches Gegenstück zur Mitte wäre) möchte hier aber auch kaum jemand öffentlich bezeichnet werden. So beliebig der Begriff auch sein mag, zur Mitte drängt alles.

Das gilt auch für andere Lebensbereiche. „In der Mitte gehst du am sichersten“ schrieb Ovid und Aristoteles spielte in seiner Nikomachischen Ethik in unzähligen Variationen den Dreiklang zweier fehlerhafter Extreme und einer anzustrebenden Mitte durch: knausrig, feige und stumpf auf der einen Seite, verschwenderisch, tollkühn und zuchtlos auf der anderen, in der Mitte aber großzügig, tapfer und besonnen. Und heute kommt kaum ein Reiseprospekt ohne Einladungen aus, vor malerischer Kulisse mal die Seele baumeln zu lassen und die eigene Mitte wiederzufinden (aber möchte man Urlaub an einem Ort machen, wo an jeder Ecke aus dem Lot geratene Seelen herumbaumeln?).

Menschen mögen also die Mitte. Ist es nicht seltsam, wie viel weniger positiv der Begriff „mittelmäßig“ besetzt ist? Meist wird er mit dem Wort „nur“ kombiniert, also als Defizit begriffen. Zwar sehnen sich Fußballvereine im Abstiegskampf danach, Anschluss ans „gesicherte Mittelfeld“ zu gewinnen. Sind sie einmal dort angekommen, mögen sie das Mittelmaß aber auch nicht lange. Was Wortfamilien angeht, ist "mittelmäßig" die schwer erziehbare Halbschwester des gesicherten Mittelfelds.

Am Samstag trefffen im Borussiapark zwei Vereine aufeinander, die die Angst vor der Mitte eint. Kerem Demirbay, aktuell verletzter Mittelfeldakteur des TSG Hoffenheim, konstatierte nach dem 1:1 gegen Freiburg vor drei Wochen, man sei „Mittelmaß“, nicht ohne das obligatorische „nur“ davorzusetzen. Seitdem hat der Club zwei überzeugende Siege nachgelegt und damit in der Rückrundentabelle in jeder Hinsicht die (je nach Perspektive goldene oder bleierne) Mitte erreicht: Platz 9, drei Siege, drei Unentschieden, drei Niederlagen, Torverhältnis 16:16. Noch mehr Mitte geht nicht. Aber eben: Tendenz wieder aufwärts. Im Klassement der ganzen Spielzeit stehen die Hoffenheimer damit auf Platz 7, was in dieser Saison ja zur Qualifikation für die Europa-League reichen könnte.

In dieser Ganzjahreswertung liegt die Borussia zwar nur drei Punkte und zwei Plätze hinter Hoffenheim, die Bilanz der Rückrunde ist aber die eines Abstiegskandidaten. „Im freien Fall“ titelt denn auch der „kicker“, der auch mal ein Korn findet. Mindestens so ernüchternd wie das Ergebnis war in Leverkusen die Leistung. „Bemühte sich, unseren Anforderungen zu entsprechen“ würde man wohl in ein Arbeitszeugnis schreiben. Die absurde Verletzungsmisere taugt natürlich als entlastendes Argument. Die Frage, ob Pech allein eine solche Häufung an Ausfällen erklärt, ist zumindest öffentlich aber nicht befriedigend beantwortet.

Gegen Hoffenheim muss sich Dieter Hecking erneut als MacGyver betätigen. (Für die Jüngeren unter unseren Lesern: MacGyver war die Hauptfigur einer gleichnamigen US-Serie in den 1980ern, der in Folge um Folge unter widrigsten äußersten Bedingungen erfolgreich improvisierte, zum Beispiel aus einem Bambusrohr, zwei Tannenzapfen und einer mitgebrachten Büroklammer eine Waffe bastelte, mit denen er Maschinengewehr-behangenen KGB-Agenten erfolgreich Paroli bot). Das gilt insbesondere für das defensive Mittelfeld: Kramer und nun auch Zakaria malad, Benes und Strobl erst perspektivisch wieder einzuplanen, Ginter und Jantschke werden hinten gebraucht. Falls Kramer nicht doch noch rechtzeitig wieder gesund wird, wird die Besetzung der Mittelfeld-Zentrale gehobene MacGyver-Klasse: Cuisance wird wohl spielen, aber wer neben ihm? Hofmann? Oder gibt es ein Jungspund-Debüt?

Auch in der Abwehr herrscht Bambusrohr-Lage: Vestergaard fällt für den Rest der Saison aus (zur Einleitung dieses Artikels passend: mit Mittelfußbruch). Sein möglicher Vertreter Oxford wird wohl (aber man soll’s nicht beschreien) nicht ganz so lange, sicher aber am Samstag fehlen. Und mit Doucouré ist es ein bisschen wie mit dem Yeti: Man zweifelt, ob es ihn gibt.

Relativ gesichert ist die Existenz von Oscar Wendt, Fabian Johnson und Raffael. Bei allen dreien besteht Hoffnung auf einen Einsatz am Samstag, Raffael gilt sogar als ernsthafte Option für die Startelf. Vom alten Grundsatz, dass ein Spieler mindestens so lange braucht, wie er verletzt war, um wieder in Form zu kommen, sollte er aber tunlichst Abstand nehmen.

Auch die Gäste beklagen Verletzungen, wobei der Umfang der Ausfälle aus Gladbacher Sicht Jammern auf hohem Niveau darstellen. Mit Geiger und Rupp muss Julian Nagelsmann allerdings auf gleich beide Akteure verzichten, die in seinem 3-2-1-2-2 die beiden offensiven Halbpositionen bekleideten. In den letzten beiden Partien hatte der Trainer erstmals in dieser Saison zweimal hintereinander die gleiche Startelf aufgeboten und die vorher praktizierte Rotation ausdrücklich selbstkritisch bewertet: Vielleicht habe er die Bedeutung personeller Konstanz unterschätzt. Ergebnisse und Spielweise sprachen zumindest dafür: Gegen Augsburg (2:0) wie gegen Wolfsburg (3:0) präsentierten sich die Kraichgauer glänzend eingestellt, zielstrebig und spielfreudig, mit taktisch kluger Balance zwischen Offensive und Defensive. Gerade in dieser letzten Hinsicht hält Nagelsmann große Stücke auf Dennis Geiger. Umso mehr schmerzt ihn der Ausfall des jungen Eigengewächses für den Rest der Saison.

Für Geiger dürfte Amiri ins Team rücken. Seine Nicht-Berücksichtigung trotz von Nagelsmann ausdrücklich attestierter guter Trainingsleistungen hatte ohnehin für gewissen medialen Wirbel gesorgt. Noch vor kurzem war der U21-Nationalspieler als nächster Hoffenheimer Star gehyped geworden, hochkarätige mögliche neue Arbeitgeber wurden durchgespielt. Amiri soll eine Ausstiegsklausel über 17 Millionen Euro haben, was mal viel Geld gewesen wäre. In der Schönen Neuen Fußballwelt, wo man ja für Boatengs Hamster zweistellige Millionensummen aufrufen kann, geht es quasi als ablösefrei durch.

Für den verletzten Rupp könnte Grillitsch vom defensiven Mittelfeld nach vorne auf die Halbposition hinter dem Sturmduo Gnabry-Kramaric vorrücken. Dann könnte auf die Sechserposition mit Eugen Polanski ein alter Gladbacher Bekannter zurückkehren. Bei einem anderen ist damit nicht zu rechnen: Harvard Nordtveit stand zuletzt nicht einmal mehr im Hoffenheimer Kader. Offenbar findet Nagelsmann den Norweger nicht mal mehr mittelmäßig.

 

Mögliche Aufstellungen:

Borussia: Sommer – Jantschke, Elvedi, Ginter, Wendt – Hofmann, Cuisance – Johnson, Hazard – Raffael, Stindl.

Hoffenheim: Baumann – Akpoguma, Vogt, Hübner – Kaderabek, Schulz – Polanski – Amiri, Grillitsch – Gnabry, Kramaric.

 

SEITENWAHL-Meinung:

Thomas Häcki: Natürlich wird nach dem 0:2 die Verletzungsmisere genannt werden. Die Gründe für Borussias Talfahrt sind vielfältig und tiefer. So bleibt am Samstagabend vielleicht nicht mal Hoffnung auf Besserung.

Michael Heinen: Borussia überrascht mit dem letzten Aufgebot und schlägt Hoffenheim mit 2:1.

Claus-Dieter Mayer: Das vorletzte Aufgebot der Borussia gegen wiedererstarkte Hoffenheimer, da schwant einem Böses. Dass die Borussia mit einer leidenschaftlichen Leistung am Ende einen 2:1-Sieg einfährt, zeigt aber wieder mal, dass im Fußball alles möglich ist.

Uwe Pirl: Die Saison trudelt aus und Borussia schleppt sich auf dem Zahnfleisch (kann man sich da auch Muskelfasern reißen???) dem Ende entgegen. Das reicht nicht für Hoffenheim, mit einer 0:2-Niederlage verabschiedet sich die Borussia aus dem Rennen um die internationalen Plätze.

Christian Spoo: Die Rumpelf rumpelt und nach Hoffenheim gibt’s nichts mehr zu hoffen. 3:1 für die Nagelsmänner.