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FSV Mainz 05„Gehirn wegen Umbaus geschlossen.“ Unter dieser Überschrift referierte der Hirnforscher Romuald Brunner vor wenigen Tagen in Weimar über den neurobiologischen Blick auf die Pubertät. Quintessenz einer komplizierten Geschichte: Das Gehirn gleicht in dieser Zeit einer Großbaustelle, wobei aber die Umbaumaßnahmen in verschiedenen Regionen in völlig unterschiedlicher Geschwindigkeit vorankommen. Besonders schnell passiert das im limbischen System, dem Zentrum des emotionalen Erlebens. Dagegen gleicht der Baufortschritt im Präfrontalcortext dem des Berliner Flughafens. Diese Hirnregion, die gleich hinter der Stirn sitzt, ist unter anderem für Impulskontrolle, die längerfristige Perspektive und das Abwägen von Konsequenzen zuständig. Das pubertierende Gehirn wird also permanent von einer Emotion nach der anderen überwältigt, die Mittel, damit umzugehen, lassen aber noch Jahre auf sich warten.

Die Pubertät: noch nicht richtig erwachsen, aber auch nicht mehr richtig Kind und ständig zwischen beidem hin- und hergerissen. Nimmt man das Erwachsenwerden als Analogie für die Reifung einer Fußballmannschaft zur Spitzenmannschaft, dann ist Borussia Mönchengladbach in der Pubertät. Erwachsener schon als noch im letzten Jahr, aber immer noch in der Pubertät. Das Spiel in Mainz lieferte eine kondensierte Form dieses fußballerischen Pubertätsdramas.

Bis zur 72. Minute präsentierte sich die Borussia erwachsen. Und auch auf Marco Fritz‘ Fehlpfiff und Yann Sommers Fehlgriff hätte sie beinahe erwachsen reagiert. Ein möglicher Kurzbericht zum Spiel hätte sich so lesen können:

Borussia Mönchengladbach hat seine Ambitionen auf einen Champions League-Platz untermauert. In Mainz siegten die Borussen im Stil einer Spitzenmannschaft mit 3:1. Nach einer Phase des vorsichtigen Abtastens nutzten die Gladbacher durch Raffael gleich die erste Torchance des Spiels. Auch eine zwölfminütige Sturm- und Drangphase der Mainzer nach der Pause brachte die Borussia nicht ernsthaft in Verlegenheit. Mit spielerischer Raffinesse und kühler Effizienz erhöhte das Team von Lucien Favre den Vorsprung, Torschütze war erneut Raffael. Wie sehr die Gladbacher inzwischen zur Spitzenmannschaft gereift sind, zeigte sich eine gute Viertelstunde vor Schluss. Nach fragwürdiger Freistoßentscheidung und einem Patzer des sonst so sicheren Yann Sommer fiel wie aus dem Nichts der Anschlusstreffer. Es gab Zeiten, da wäre die Borussia nun in Panik verfallen und hätte den Vorsprung vielleicht sogar noch verspielt. Nicht so an diesem Samstag: Nur eine Minute später vollendete Kruse Herrmanns Traumpass zum 3:1. Danach kontrollierten abgeklärte Borussen Ball und Gegner und feierten am Ende einen nie ernsthaft gefährdeten Sieg.

Es kam anders. Dass Max Kruse frei vor Keeper Karius nur den Pfosten traf, war zum Teil Pech, aber auch Resultat eines unglücklichen und damit die Trefferwahrscheinlichkeit mindernden Laufwegs. Mit dieser emotionalen Doppelturbulenz binnen zweier Minuten überlegt und planvoll umzugehen, dazu fehlten plötzlich die Mittel. Borussia wurde wieder zum Kind. Das limbische System fuhr Achterbahn und mit Martin Stranzl war der Hauptvertreter des fußballerischen Präfrontalcortex verletzungsbedingt nicht mehr dabei. Der Rest ist Geschichte.

Zur Pubertät gehört auch eine besondere Neigung, eigenen Misserfolg Autoritätspersonen anzulasten. Für Jugendliche sind das Eltern und Lehrer, für Fußballer die Schiedsrichter. Sie alle machen Fehler, jeden Tag, jedes Spiel. So auch Marco Fritz: Die Freistoßentscheidung vor dem 1:2 fiel in die Kategorie „albern“ und über einen Elfmeterpfiff nach Bells robustem Körpereinsatz gegen Kramer hätten sich die Mainzer auch nicht beschweren dürfen. Der Versuchung, ihr Scheitern darauf zurückzuführen, widerstanden die Borussen nur zum Teil.

Aber es war nicht Fritz, der Geis‘ Freistoß ins Torwarteck passieren ließ; nicht Fritz, der sich frei vor Karius zu weit nach außen orientierte; nicht Fritz, der es versäumte, nach dem Anschlusstreffer das Spiel zu beruhigen; nicht Fritz, der vor dem Ausgleich hühnerhaufengleich durch den Strafraum flatterte und gackerte. Eine erwachsene Borussia hätte Mittel und Wege finden können, um dieses Spiel trotz zweier unglücklicher Entscheidungen zu kontrollieren und zu gewinnen. „Im Stile einer Spitzenmannschaft“, hätte es dann zu Recht geheißen.

Ist Borussia nur mit Martin Stranzl wirklich erwachsen? In diesem Sinne wurde nach dem Spiel gefragt. Der Kapitän war nicht mehr auf dem Platz, als seine Mannschaft zum Kind wurde. Das erste Gegentor hätte er kaum verhindern können und ob das zweite, ist ungewiss. Aber die Frage ist grundsätzlicherer Natur. Natürlich: Zahlenspielereien taugen höchstens für Indizien, weil Fußball multifaktoriell ist und jedes Spiel seine eigene Geschichte hat. Aber die Indizien deuten im Falle Stranzl doch so sehr in eine Richtung, dass Zufall als einzige Erklärung unglaubwürdig erscheint. In dieser Bundesligasaison spielte die Borussia vor der Partie gegen Mainz 16-mal mit Stranzl und 6-mal ohne ihn. Mit ihm hielt sie in mehr als der Hälfte der Spiele das eigene Tor sauber, ohne ihn in keinem. Mit ihm kassierte sie nie mehr als ein Gegentor, ohne ihn in jedem zweiten Spiel. Mit ihm hat Borussia, statistisch betrachtet, die beste Defensive der Liga, ohne ihn gibt es zehn bessere. Gerade auf der Innenverteidigerposition kann man Max Eberl nur ein glückliches Transferhändchen wünschen, um Stranzl in der nächsten Spielzeit auch mal aus der Watte packen zu können.

Unsinn ist dennoch das in manchen Foren wabernde Lamento, wer solch einen Vorsprung verspiele, habe in der Champions League nichts verloren. Wer so schwadroniert, übersieht, dass auch die Konkurrenz kräftig pubertiert. Wie Leverkusen, das mal relativ sang- und klanglos in Bremen verliert, in Augsburg und Wolfsburg jeweils späte Gegentore kassiert und dann wieder zwei Pflichtaufgaben gegen Abstiegskandidaten einigermaßen ungefährdet löst. Wie Schalke, das in Frankfurt verliert, in Dortmund untergeht und dann wieder Hoffenheim überrennt. Wie Augsburg, das gegen Kellerkind Hertha BSC verliert und gegen Wolfsburg dann wieder erwachsen ist. Umbaumaßnahmen allerorten.

Enden wir versöhnlich. Markus Schulte von Drach schreibt über die Pubertät: „Die allermeisten Jugendlichen überstehen diesen geistigen Ausnahmezustand ohne negative Folgen - und umso besser, je verständnisvoller Eltern sie dabei unterstützen. Und vielleicht lassen sich ihre Risikobereitschaft und ihre Neigung, Normen und Werte in Frage zu stellen, auch als Chance für die Entwicklung von etwas Neuem in der Gesellschaft betrachten.“ So gesehen, darf man auch als Gladbach-Fan hoffen: darauf, dass die Turbulenzen auf dem Weg zum Erwachsenwerden sich am Ende gelohnt haben werden. Aufregend sind sie ohnehin.