Es heißt, die Hoffnung beginne dort, wo die Verzweiflung endet. Genau dies ereignete sich im Borussia-Park am 4. Juni 2022 bei der Präsentation des neuen Cheftrainers. Groß war die Verzweiflung zuvor gewesen bei Borussias Fangemeinde. Nach einer ernüchternden Saison mit dem Rückfall in die Zweistelligkeit der Bundesliga-Tabelle hatte die Ernennung von Roland Virkus zum Sportdirektor relativ wenig Aufbruchstimmung erzeugt. Als dieser am 30. Mai 2022 auf der Mitgliederversammlung die bereits als sicher geltende Rückkehr von Lucien Favre auf Borussias Trainerstuhl absagen musste, war der emotionale Tiefpunkt erreicht. Kein Trainer, ein unerfahrener Sportdirektor, eine Vielzahl offener Vertragsbaustellen und relativ wenig Geld auf dem corona-geplagten Konto.

Das Ende dieser Verzweiflung nahte nur wenige Tage später. Eine rhetorisch hochklassige Pressekonferenz von Daniel Farke genügte, um die Aufbruchstimmung und den vermeintlich letzten Funken Hoffnung wieder anzuheizen. Es gibt wenig, was so unberechenbar berechenbar ist wie die Emotionen eines echten Fußballfans. Nirgendwo sonst wird der Sprung von tiefster Verzweiflung zu neuer Hoffnung so schnell vollzogen.

Unsichere Vertragslage erschwert Planungen

Viele der Probleme, die noch vor dem 4. Juni Tristesse verursachten, bestehen allerdings auch unter Farke. Die unsichere Situation konnte nur bei Breel Embolo durch einen Verkauf geklärt werden. Weiterhin besteht eine Vielzahl ungeklärter Fragezeichen durch die schlecht geplante Vertragslage, die zum Ende der neuen Saison einen ablösefreien Wechsel allzu vieler Stammspieler ermöglichen könnte. Yann Sommer, Rami Bensebaini, Jonas Hoffmann, Alassane Plea und Marcus Thuram auf einen Schlag ohne finanzielle Kompensation zu verlieren, wäre der Super-Gau für einen Verein, der finanziell auf eigenen Füßen steht und zudem seit zwei Jahren keine internationalen Einnahmen mehr zu verzeichnen hat.

Eine Verlängerung konnte bislang nur bei Patrick Herrmann verzeichnet werden. Bei Christoph Kramer und Lars Stindl, deren Verträge ebenfalls zum Saisonende auslaufen, sollte dies gleichermaßen gelingen können. Bei den übrigen Spielern wird es insbesondere eine Preisfrage sein, ob sie bis zum Ende dieser Transferperiode am 01. September 2022 abgegeben werden, um zumindest noch etwas Geld einzunehmen. Am wahrscheinlichsten erscheint dies derzeit bei Bensebaini und Plea. Der Algerier scheint schon seit einiger Zeit mit Borussia abgeschlossen zu haben und sollte in der aktuellen Form relativ leicht zu ersetzen sein. Mit Luca Netz steht ein talentierter Spieler bereit, dem in dieser Saison der nächste Schritt hin zum Stammspieler zuzutrauen ist. Schwieriger wäre es, einen gleichwertigen Ersatz für Plea zu finden, der mit seiner Torgefahr und seinen spielerischen Impulsen zuletzt einer der wichtigsten Offensivspieler gewesen ist.

Sportliche Schwächung vs. finanzielle Nöte

Jonas Hofmann wird mit Blick auf die bevorstehende Weltmeisterschaft nicht unbedingt Ambitionen haben, an seinem Status Quo Entscheidendes zu ändern und einen sofortigen Wechsel zu forcieren. Durch seine konstant guten Leistungen bei Borussia hat er sich auch für Hans-Dieter Flick unverzichtbar gemacht. Es wäre zu wünschen, dass er die Nöte seines Vereins ein wenig mehr bei seiner persönlichen Lebensplanung berücksichtigt. Zwingen kann man ihn dazu aber nicht. Wenn ein Vertrag bis 2023 unterschrieben wird, dann sollte er für beide Seiten als bindend gelten. Borussia ist schließlich nicht der FC Bayern. Sollte Hofmann eine erfolgreiche WM absolvieren, wäre unter Umständen immer noch ein Winterwechsel wie zuletzt bei Denis Zakaria vorstellbar. Ideal wäre allerdings eine Verlängerung des Vertrags – ggf. ergänzt um eine relativ niedrige Ausstiegsklausel in den Folgejahren.

Der Verein muss sich darüber im Klaren sein, dass ein Abgang jedes Stammspielers voraussichtlich mehrere Punkte in der Endtabelle kosten wird. Bei Plea, Hoffmann oder Sommer würde die sportliche Schwächung besonders deutlich ausfallen. Die entsprechenden Ablösen müssten daher schon ausreichend hoch sein, um dies zu berücksichtigen. Allein deshalb war die Meldung der französischen L´Equipe unsinnig, die einen Wechsel von Sommer nach Nizza für einen läppischen Betrag von 2,5 Mio. Euro vorsah. Der Schweizer Nationalkeeper hat es sich durch seine starken Leistungen der letzten Jahre verdient, mit einem neuen Vertrag über zwei bis drei weitere Jahre zu einem Topverdiener bei Borussia aufzusteigen. Mit einer Verlängerung würde er ein wichtiges Zeichen setzen und endgültig zur Vereinslegende aufsteigen.

Ordentliche Aussichten in der Defensive

Vor Sommer wird voraussichtlich eine Viererkette auflaufen, in der sich rechts Joe Scally und Stefan Lainer um den freien Posten balgen. Der Amerikaner erlebte in der Vorsaison Höhen wie Tiefen und sollte sich in dieser Saison in seiner Leistung stabilisieren. Links läuft es derzeit ebenfalls auf einen Zweikampf zwischen einem etablierten Spieler (Rami Bensebaini) sowie einem aufstrebenden Talent (Luca Netz) hinaus. In der Vorbereitung wurde allerdings auch Hannes Wolf in dieser Rolle getestet, was die Variationsmöglichkeiten erhöht.

Die Innenverteidigung ist mit Nico Elvedi, Marvin Friedrich und Jordan Beyer ordentlich aufgestellt. Der vielseitige Ko Itakura und Routinier Tony Jantschke stehen bei entsprechenden Ausfällen als Alternativen zur Verfügung.

Defensiv erscheint der Kader damit in Spitze und Breite ordentlich genug aufgestellt, um einen Rückgang der zuletzt allzu hohen Gegentorzahlen von 56 (Saison 2020/21) bzw. 61 (Saison 2021/22) bewerkstelligen zu können.

Sehr stark wird es für dieses Ziel aber auf das defensive Mittelfeld ankommen, wo Itakura primär eingeplant ist. Neben ihm runden Koné, Kramer und Neuhaus das Kandidatenfeld ab. Sind alle einsatzfähig, wird es Farke schwerfallen, sich jeweils für die zwei zu entscheiden, die am besten miteinander harmonieren.

Verbesserungsbedarf in der Offensive

Etwas weniger breit sieht das Bild in der Offensive aus, was nicht erst durch den aktuellen Ausfall von Lars Stindl offenbar geworden ist. Die Startformation aus dem Pokalspiel ist mit Stindl, Hofmann, Plea und Thuram absolut hochklassig. Der Ersatz fällt aber mit dem unermüdlichen Herrmann und dem unberechenbaren Wolf qualitativ recht stark ab oder ist mit Talenten wie Borges Sanches, Fraulo oder Noss noch unerfahren. Roland Virkus hat daher bereits angekündigt, auf der Suche nach einem Nachfolger für den abgewanderten Embolo zu sein. Wird Plea noch verkauft, sollte es sogar mindestens zwei weitere Neuzugänge in der Offensive geben, damit Borussia beruhigt in die Saison gehen kann.

Insgesamt verfügt Borussia über einen Kader, der nicht nur von der Gehaltstruktur überdurchschnittlich ist. Mit den vier Topklubs aus München, Dortmund, Leverkusen und Fuschl am See kann die Fohlenelf zwar monetär nicht mithalten. Aber ansonsten wird nur noch in Wolfsburg deutlich mehr gezahlt als am Niederrhein. Zumindest in der Stammbesetzung gibt es keinen Verein unterhalb von Platz 4, vor dem sich Borussia verstecken bräuchte. In einzelnen Partien kann die Mannschaft sogar jeden schlagen, wie im Vorjahr Bayern, Dortmund und Leipzig eindrucksvoll miterlebt haben.

Mit Farke in eine bessere Zukunft?

Schaut man etwas genauer hin, dann war in der letzten Saison vieles, aber nicht alles schlecht. Obwohl es Adi Hütter nicht gelang, konstante Leistungen aus seinem Team herauszukitzeln und ihm so etwas wie eine nachvollziehbare Handschrift zu verpassen, holte er in der Rückrunde immerhin 26 Punkte, was einem 7. Platz entsprach. Allein in den letzten 10 Partien waren es 18 Zähler – die einzige Niederlage in diesem Zeitraum gab es ausgerechnet im Derby, was die Stimmungslage gewaltig eintrübte.

Ein guter Trainer sollte mit etwas Glück in der Lage sein, mehr aus der Mannschaft herauszuholen als es Hütter gelang. Das souveräne 9:1 beim Oberligisten Oberachern sollte da aber ebenso wenig zu Euphorie verleiten wie die erfolgreiche Vorbereitung ohne Niederlage. Immerhin gab es gegen erstklassige Teams nur Unentschieden und nicht immer waren die Leistungen ausnahmslos gut.

Die Unsicherheiten im Kader machen es ohnehin schwierig bis unmöglich, eine Prognose über den Saisonverlauf von Borussia abzugeben. Bleibt das aktuelle Team beisammen und wird offensiv noch um einen Qualitätsspieler ergänzt, dann ist es Daniel Farke zuzutrauen, um die europäischen Plätze mitzuspielen. Dafür sollte es aber nicht zu größeren Verletzungswellen kommen, denn auf der Ersatzbank ist der Verein nicht mehr ansatzweise so gut besetzt wie noch vor einigen Jahren.

Andererseits hat sich Farke bei Norwich City u. a. dadurch hervorgetan, dass er junge, unbekannte Akteure zu Leistungsträgern entwickelt hat. Man sollte sich nicht darauf verlassen, dass z. B. Yvandro Borges Sanches, Oscar Fraulo, Conor Noß oder Rocco Reitz bereits in dieser Saison der große Durchbruch gelingt. Ein wenig mehr Entwicklung und Verbesserung einzelner Spieler als in den letzten Jahren bei Hütter und Rose zu erkennen war, darf sich aber von Farke schon erhofft werden.

Auf der Suche nach einer nachhaltigen Perspektive

Dies wird letztlich fast wichtiger für die Bewertung des Saisonergebnisses sein als der nackte Stand in der Endtabelle. Gelingt es dem Trainer, seinen „Farke-Ball“ erfolgreich bei Borussia zu etablieren und der Mannschaft ein glaubwürdiges Spielsystem zu verpassen? Gelingt es ihm, seine Spieler weiterzuentwickeln und dafür zu sorgen, dass die Mannschaft geschlossen besser auftritt als es die Summe ihrer Einzelteile vermuten ließe?

Nach den erfolglosen Abwegen des unpassenden Bullenfußballs benötigt Borussia wieder eine echte, nachhaltige Perspektive. Der Verein sollte sich dabei nicht kleiner machen als er ist. Auch wenn der (sportliche) Vorsprung gegenüber einigen Konkurrenten geschmolzen ist, hat die Mannschaft immer noch das Potential, bei gutem Saisonverlauf um die europäischen Plätze mitzuspielen. Kaum jemand wird ihr aber ernsthaft böse sein, wenn sie auch dieses Jahr wieder „nur“ im gesicherten Mittelfeld landet, solange sie mit Leidenschaft und Authentizität auftritt und eine nachhaltige Perspektive aufzeigt, wie sich Mannschaft und Verein in den folgenden Jahren entwickeln können.