Wer hätte vor der Saison gedacht, dass sich die bevorstehende Heimpartie gegen den FC Augsburg zu einem der wichtigsten Spiele der jüngeren Vereinsgeschichte entwickeln konnte? Für den ein oder anderen mag es übermäßig dramatisch klingen, es ist schließlich „erst“ der 22. Spieltag – etwas Zeit bliebe also auch im Anschluss noch, um die nötigen Punkte für den Klassenverbleib zu holen. Doch würde das die hochbrisante Lage ignorieren, in die Borussia durch eine Niederlage, womöglich selbst ein maues Remis geraten könnte – denn spätestens dann müsste man die bittere Frage stellen: Gegen wen kann man überhaupt noch gewinnen, wenn nicht gegen einen direkten Konkurrenten, an diesem Samstag, zuhause, vor zumindest ein paar tausend Fans? Und was hat das mit niederländischen Renaissancemalern zu tun?

Panikmache ist wahrscheinlich in keinem Lebensbereich hilfreich, und ganz besonders nicht im Leistungssport, wo psychische Komponenten einen ganz wesentlichen Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg ausüben. Dennoch ist es gerade im Fußball oft ein Reflex, ein verlorenes Spiel, ja selbst einen einzelnen Fehlpass oder eine verpasste Großchance als Totalversagen zu deklarieren. Und so wundert es umso mehr, dass rund um den Borussia-Park, von Vereinsführung über die Anhängerschaft bis hin zu den Niederrungen der Boulevardmedien, keiner bisher das Gesamtbild des Vereins in den letzten zwölf Monaten zum Anlass genommen hat, eine überlebensgroße Alarmglocke an der Hennes-Weisweiler-Allee zu installieren. Über die Ereignisse an sich ist spätestens seit dem Abgang von Max Eberl viel berichtet und spekuliert worden, und es ist nahezu sicher, dass in den kommenden Monaten noch mehr Details und Behauptungen über das, „was wirklich passiert ist“ zu Tage treten werden. Grimme-Preis-affine Journalisten hätten sich in Anbetracht der Geschehnisse im Fohlen-Jahr 2021 der beliebten Feuilleton-Floskel bedienen können, dass sich Fans und Beobachtern im Borussia-Park „eine Szenerie darbot wie in einem Albtraum von Hieronymus Bosch“: viel Wut, viel Leidenschaft, Sünde, Bestrafung, Verletzungen, Abschied – was folgt, ist bei Bosch das Jüngste Gericht. In der Bundesliga zumeist der Abstieg.

Und doch erscheint die Stimmung in und um den Verein in diesen Tagen eher wie ein „die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst“ denn wie echte, dringliche Besorgnis. Zwar wird mittlerweile einhellig betont, dass man sich der Situation bewusst sei. Doch dann sind da wieder diese immerwährenden Phrasen, die vom „Besinnen auf die spielerische Stärke“, „unserer Spielweise treu bleiben“ und dem „Abrufen der vorhandenen Qualität“, die stärker nachhallen als das Bewusstsein, dass sich Borussia tatsächlich in akuter Abstiegsgefahr befindet. Weil sie eine Mannschaft hat, die als solche schon seit einem Jahr nur selten funktioniert und bereits zuvor immer wieder Tendenzen einer unerklärlich-falschen Prioritätensetzung gezeigt hat. Und deren Zusammensetzung nicht nur in Bezug auf die fußballerische Variabilität, sondern auch qualitativ und charakterlich eine Unwucht aufweist, die nach dem Ende der Transferperiode nicht mehr korrigiert werden kann. So ist es fast verständlich, dass sich die Akteure immer wieder auf das beziehen, was Borussia lange ausgemacht hat – als die Stimmung intern noch blendend, der sportliche und wirtschaftliche Kurs stets erkennbar und der Verein ein Ort war, in dem auch international begehrte Spieler glaubhaft vermittelten konnten, gemeinsam etwas erreichen zu wollen.

Die aktuelle, harte Realität ist, dass wir als wohlmeinende Anhänger von Borussia in einer knappen Heimniederlage gegen Union Berlin und einem Unentschieden bei Arminia Bielefeld erkennen (wollen), dass diese Truppe nun endlich verstanden hat und bereit ist, den Kampf gegen den Abstieg anzunehmen. Was es jetzt aber dringend braucht, sind Punkte, nein, SIEGE, denn nur so gewinnt eine Mannschaft sprichwörtlich ihr Selbstbewusstsein – und mit der Zeit vielleicht auch das spielerische Selbstverständnis – zurück. Wie gegen Augsburg gewonnen wird, ist dabei herzlich egal. Adi Hütter, der besonders bei den Medien außerhalb des inneren Berichterstatterkreises in Mönchengladbach Woche für Woche angezählt wird, muss aus seiner nicht beneidenswerten Rolle das Beste machen. Die aufsteigende Form einiger, lange in Bräsigkeit versunkender Leistungsträger wie Neuhaus, Ginter und zuletzt Plea zusammen mit Dauerlichtblicken wie Hofmann oder Koné ist dabei die größte Hoffnung. Der Trainer ist selbst gefordert die Basis dessen, was er sich fußballerisch vorstellt, endlich in die Mannschaft zu bekommen – so, wie es zur Mitte der Hinrunde zwischenzeitlich schon einmal den Anschein erweckte. Taktischer Feinschliff ist derzeit weder gefragt noch möglich, es gilt vielmehr, die vorhandenen Stärken wieder nutzbar zu machen. Ein Fokus auf mehr Kompaktheit hat seit dem Union-Spiel defensiv (durch individuelle Fehler teilweise konterkarierte) Fortschritte gebracht, offensive Raumaufteilung und Abschluss müssen weiterhin deutlich verbessert werden. Automatismen wurden noch nicht verinnerlicht und die fehlenden Erfolgserlebnisse trugen ihr Übriges dazu bei, dass den Spielern zu lange das Vertrauen zu fehlen schien.

Das Argument einer fehlenden Kompatibilität von Kader und Trainer darf allerdings nicht gelten: Trotz der genannten Probleme und fehlender Alternativen muss – rein sportlich betrachtet – von dieser Mannschaft erwartet werden, in einer schwachen Bundesliga zumindest nicht abzusteigen. Das wird aber nur gelingen, wenn sich die Spieler endlich darauf besinnt, Basics wie Laufarbeit, sauberes Passspiel und Konzentration über 90 Minuten zur obersten Priorität zu machen.

Und genau so kann das Spiel des Gegners aus Augsburg beschrieben werden: Trainer Weinzierl ist es zwar bislang kaum gelungen seinem Team einen durchgängig erkennbaren Stil zu vermitteln, aber er hat für den Abstiegskampf eine Menge Charaktere zur Verfügung, die das Laufen und Kämpfen aus dem Effeff beherrschen. Hinten wird größtenteils gemauert, vorne bringen Spieler wie Niederlechner, Vargas, Gregoritsch und allen voran André Hahn einiges an Tempo und Wucht mit, was besonders in Umschaltsituationen Gefahr bedeutet. Genau so verlor Borussia das fußballerisch extrem trostlose Hinspiel dann auch mit 0:1. Dass es auch noch nach einem Stockfehler durch Nico Elvedi geschah, der in der Entstehung etwas an das Gegentor letzte Woche in Bielefeld erinnert, sollte nochmals verdeutlichen, wie lange Borussia sich schon mit den immer selben Problemen herumschlägt.

Womit wir bei der ursprünglichen Frage wären: Kann es Borussia noch? Ein „normales“ Spiel in der Bundesliga gewinnen? Uns Fans den Glauben zurückgeben, dass diese Saison, die so nach Debakel riecht, so nach HSV-Werder-Schalke im Expressdurchgang, doch noch glimpflich, und nicht im sportlichen Exodus endet? Und wenn man dann noch bedenkt, dass der alte Meister Hieronymus Bosch Zeitgenosse eines gewissen Jakob Fugger war, sollte jedem klar sein, welche Rolle dem FC Augsburg an diesem Samstag zukommen kann…

Zuviel? Vielleicht. Aber wir sollten besser gewinnen.

SEITENWAHL-Prognose

Christian Grünewald: Ich tippe ja nie, ich hoffe nur. :-)

Christian Spoo: Borussia gibt sich mühe. Das reicht wie in Bielefeld zu einem Punkt. Das erneute 1:1 ist gegen einen Abstiegskonkurrenten zu wenig.

Michael Heinen: Borussia muss gewinnen und Borussia wird gewinnen. Trotz des 2:0 gibt es aber noch lange keine Entwarnung für die Fohlenelf.

Thomas Häcki: Nach dem 0:2 gegen Augsburg herrscht blankes Entsetzen über den Sturz auf einen Abstiegsplatz.

Claus-Dieter Mayer: Weder Fisch noch Fleisch? Ja, die Borussia bleibt weiterhin vegetarisch und kommt auch gegen Augsburg nicht über ein 1:1 hinaus. Aber natürlich gibt es "gute Ansätze"...