Mit dem Ausscheiden im Achtelfinale der Europameisterschaft ist nach 15 Jahren auch die Amtszeit des Bundestrainers Joachim Löw beendet worden. 198 Länderspiele und acht große Turniere lang begleitete der Schönauer die deutsche Nationalmannschaft und wird den meisten primär als Weltmeistertrainer in Erinnerung bleiben. Blickt man allerdings etwas genauer auf seine Bilanz, so fällt das Bild differenzierter aus: Allein von der Anzahl der gewonnenen Titel z. B. war Löw nur halb so erfolgreich wie seine Vorgänger im Durchschnitt. Andererseits prägte er mit seinem offensiven Stil über lange Jahre ein positives Bild des deutschen Fußballs.

Als Joachim Löw seine Arbeit für den DFB im Jahr 2004 – anfangs noch gemeinsam mit Jürgen Klinsmann – begann, stand die deutsche Nationalmannschaft am Abgrund. 2004 war die zweite Europameisterschaft in Folge nach der Vorrunde beendet. Deutschland steckte immer noch in den 1990er-Jahren fest und hatte sich viel zu lange auf dem Weltmeistertitel von 1990 ausgeruht. Zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte der DFB ein Talentförderprogramm gestartet und fast alle Vereine zur Führung von Nachwuchsleistungszentren verpflichtet. Das Duo Klinsmann/Löw katapultierte nun auch die verkrusteten Strukturen der Nationalelf in die Moderne. In der Folge entwickelte sich eine goldene Generation, die unter Leitung von Löw sechsmal in Folge das Halbfinale eines großen Turniers erreichte, die Massen durch eine Fülle imposanter Auftritte begeisterte und zur Krönung 2014 den Weltmeistertitel errang. Dies ist das öffentliche Bild, das die Arbeit von Joachim Löw als Bundestrainer weitgehend prägt, das aber nur die eine Seite der Medaille darstellt.

Keine Frage, wer das Halbfinale für die deutsche Nationalmannschaft als Erfolg bewerten möchte, der muss das Wirken von Löw zumindest bis zum Jahr 2016 als sehr erfolgreich bezeichnen. Wahr ist allerdings auch: In der Historie des DFB wurde bei 22 von 32 großen Turnieren stets das Halbfinale erreicht. Bei den Weltmeisterschaften 1994 und 1998 z. B. gab es jeweils ein Ausscheiden im Viertelfinale, was damals in der Öffentlichkeit als peinlicher Misserfolg wahrgenommen wurde. Ein Halbfinale entspricht in der deutschen Turniergeschichte dem Durchschnittsergebnis – so beeindruckend das sein mag.

Nimmt man die Ergebnisse unter Löw von 2006 bis 2021 zusammen, so reichte es in acht Turnieren einmal für den Titel, viermal fürs Halbfinale und zweimal für ein frühzeitigeres Ausscheiden. Verglichen mit der Gesamtbilanz des DFB (7/22/10) ist das eine sehr durchschnittliche Bilanz. Richtet sich die Bilanz allein auf Titel aus, so ist sie sogar unterdurchschnittlich, da Löw bei 12,5 % seiner Turniere siegreich blieb, nachdem die DFB-Quote zuvor bei 25 % gelegen hatte.

2006 kam das Erreichen des 3. Platzes auf den ersten Blick einer Sensation gleich, weil sich die Mannschaft in den Jahren zuvor auf einem Abwärtstrend befunden hatte und bei den beiden vorherigen Europameisterschaften kläglich in der Vorrunde gescheitert war. 2002 hatte es allerdings sogar zu einem 2. Platz gereicht, der damals weit weniger Beachtung fand als das spätere „Sommermärchen“ daheim. Betrachtet man es rückblickend, so profitierte die Nationalelf 2006 auch davon, dass die Nachwuchsförderung des DFB zu greifen begann. Junge Spieler wie Lahm, Schweinsteiger, Klose oder Mertesacker, die allesamt am Anfang einer großen Karriere standen, stießen zu den Etablierten wie Frings und Ballack. Das Ausscheiden im Halbfinale war keine Schande, da es dieser goldenen Generation noch an Turniererfahrung fehlte, um gegen die abgezockten Italiener zu bestehen. Der 3. Platz war realistisch betrachtet aber keine solch beachtliche Leistung wie es damals schien, da die Mannschaft über eine ordentliche Qualität verfügte und zudem den Heimvorteil nutzen konnte, der in der WM-Geschichte schon vielen Nationen ein überdurchschnittliches Abschneiden ermöglichte.

Auch in den folgenden drei Großturnieren gelangte die Generation Schweinsteiger mit ihrem Übungsleiter jeweils ins Halbfinale sowie 2008 sogar ins Finale. Das Aus kam stets gegen ein südeuropäisches Team – zweimal war Spanien sowie 2012 ein weiteres Mal Italien ein scheinbar übermächtiger Gegner. Es war die goldene Ära der Spanier, die in diesem Zeitraum die beste Mannschaft der Welt stellten. Nachdem sie vorher (und nachher) nur 1964 einen einzigen EM-Titel einfahren konnten, räumten die Iberer zwischen 2008 und 2012 gleich alle möglichen Titel ab. Echte Konkurrenz gab es in dieser Zeit kaum. Einzig Italien und das aufstrebende Deutschland verfügten über Mannschaften, die ihnen hätten gefährlich werden können.

Im Falle der Deutschen misslang das nicht zuletzt deshalb, weil Joachim Löw in den direkten Duellen vor Ehrfurcht erstarrte und sich und seine Mannschaft unterwürfig in die Rolle des Underdogs verkroch. Man durfte in dieser Zeit gegen Spanien verlieren, aber etwas mehr Zutrauen in die eigene Stärke hätte die Spiele vermutlich offener gestalten können als sie 2008 und 2010 letztlich waren. Nicht immer gewinnt im Fußball die Mannschaft mit den besseren Einzelspielern – etwas, was Deutschland u. a. in den entscheidenden Partien 1976, 1992 und 2016 am eigenen Leib erfuhr – von 1978 oder 2018 ganz zu schweigen.

Obwohl die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 2010 u. a. mit dem 4:0 über Argentinien ihre Qualitäten eindrucksvoll nachgewiesen hatte, richtete Löw seine Taktik im Entscheidungsspiel gegen Spanien voll auf den Gegner aus und blieb damit letztlich chancenlos. 2012 bewegte ihn die Furcht vor dem starken Andrea Pirlo zu taktischen Umstellungen, die sich als grundfalsch herausstellten. Der Trainer Joachim Löw stieß in den entscheidenden Partien regelmäßig an seine Grenzen als Taktiker und es wäre spannend gewesen zu erfahren, was ein Top-Trainer aus diesen Situationen herausgeholt hätte.

Was bei aller Kritik an Löw nicht geleugnet werden kann: Die deutsche Nationalmannschaft spielte unter ihm in den Jahren 2006 bis 2014 einen oftmals begeisternden Offensivfußball, der das internationale Image einer rein auf Erfolg ausgerichteten Nation massiv veränderte und dem DFB viele neue Fans einbrachte. Die „Schlandisierung“ des Fußballs in diesen Jahren fußte nicht zuletzt auf dieser Tatsache und war ein wesentlicher Grund für den Boom, der auch auf den deutschen Vereinsfußball überschwappte. So erklärt sich, warum die Ergebnisse in dieser Zeit öffentlich weit positiver eingeordnet wurden als diverse Vize-Welt- und Europameisterschaften in den Jahren 1982, 1986, 1992 oder 2002. Deutschland duselte sich nicht mehr weiter, sondern sorgte regelmäßig für emotionale Happenings, die beim Public Viewing gefeiert wurden wie ein Titelgewinn.

Die anfängliche Erfolgsgeschichte unter Löw kulminierte 2014 im Gewinn des WM-Titels. Spanien hatte zu dieser Zeit seinen Zenit überschritten und sich genau wie Italien frühzeitig aus dem Turnier verabschiedet. Als echte Konkurrenten blieben nur noch die Südamerikaner. Brasilien und Argentinien konnten in diesem Jahr aber keine große Mannschaft aufbieten. Der Titelgewinn war daher der folgerichtige Höhepunkt dieser goldenen Generation. Er wurde zudem auf beeindruckende Art und Weise klargemacht – nicht zuletzt dank des historischen 7:1-Erfolgs über die an ihren Nerven und der Erwartungshaltung zerbrechenden Gastgeber aus Brasilien.

Wäre Joachim Löw zu diesem Zeitpunkt als Bundestrainer zurückgetreten, so hätte er rein statistisch auf eine überdurchschnittlich erfolgreiche Amtszeit zurückblicken dürfen und wäre von der schlandisierten Öffentlichkeit als Volksheld gefeiert worden. Selbst das Halbfinalaus zwei Jahre später gegen Frankreich wäre noch ein dankbares Ende gewesen, wenngleich es dort erneut Kritik an seiner taktischen Ausrichtung gab und der immer noch hochklassigen Elf ein erneuter Titelgewinn zuzutrauen gewesen wäre.

Das was in den kommenden Jahren folgte, hätten sich Löw und DFB besser erspart. 2017 gewann Löw mit einer jungen Mannschaft den Confederations Cup – ein Titel, der sportlich genauso wertlos war wie der (vermeintliche) Abstieg aus der Nations League ein Jahr später. Statt spätestens 2016 einen echten Umbruch einzuleiten und den Stützen aus dem Confed Cup weiter das Vertrauen auszusprechen, hielt Löw bei der WM 2018 wie auch bei der EM 2020/21 an einigen der alternden Stars fest.

2016 nahm er z. B. mit Lukas Podolski einen seiner Lieblingsspieler mit zur EM, obwohl dieser zu diesem Zeitpunkt schon über Jahre hinweg keine Leistung mehr bei seinen diversen Vereinen gebracht hatte und auch bei den vorangegangenen beiden Turnieren enttäuschte. 2018 war die Entscheidung für Manuel Neuer als Nr. 1 ein Kardinalfehler gewesen. Dieser war zuvor über zwei Jahre hinweg verletzt gewesen und erst kurz vor dem Turnier genesen. Während dem einstigen Welttorhüter jahrelange Spielpraxis fehlte und er noch lange nicht wieder in Bestform sein konnte, hatte sich Marc-André ter Stegen in seiner Abwesenheit sowohl in der Nationalmannschaft als auch beim FC Barcelona auf Weltklasse-Niveau etabliert. Wenngleich Neuer bei zwei Gegentoren 2018 unglücklich aussah, war ihm das Aus letztlich zwar nicht direkt anzulasten. Es war aber ein verheerendes Signal von Löw, hier erneut auf einen Spieler allein wegen seines Namens und aufgrund vergangener Verdienste zu setzen und das Leistungsprinzip ohne Not außer Kraft zu setzen.

Nach dem peinlichen Abschneiden bei der WM 2018 – dem schlechtesten Ergebnis, das eine deutsche Nationalmannschaft jemals bei einer Weltmeisterschaft erzielte – setzte Löw mit dem Ausbooten von Hummels, Boateng und Müller scheinbar erneut auf einen Umbruch. Dies begleitete er aber halbherzig, indem er sich über die Endgültigkeit seiner Entscheidung ausschwieg und zwei der drei Spieler kurz vor der EM 2021 dann doch wieder ins Nationalteam zurückholte. Da er zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden hatte, seinen Job nach der Europameisterschaft zu beenden, war ihm offensichtlich nur noch daran gelegen, bei seinem letzten Turnier ein noch halbwegs akzeptables Ergebnis zu erzielen. Dieses Ziel misslang – ob trotz oder wegen Hummels und Müller. Schon gegen Ungarn in der Vorrunde stand die Mannschaft kurz vor einem blamablen Aus. Gegen England war sie dann die schlechtere Mannschaft und verlor verdient mit 0:2. Das Achtelfinalaus war das fünftschlechteste Abschneiden des DFB bei insgesamt 32 Großturnieren. Die Mär, dass Deutschland nur die Qualität gefehlt habe, verfängt sich, wenn man sich die Erfolge des Kaders auf Vereinsebene anschaut. Die Mannschaft setzte sich überwiegend aus Champions League-Finalisten der vergangenen Jahre zusammen, die aber so gut wie nie zu einer funktionierenden Einheit zusammengefügt wurden. Zudem wurden Spieler wie Kimmich oder Müller auf Positionen eingesetzt, auf denen sie offensichtlich nicht ihre stärksten Leistungen zeigen konnten. Selbst 2014 wurde der Titelgewinn im Achtelfinale gegen Algerien akut gefährdet, weil Löw sich auf ein riskantes Experiment mit Shkodran Mustafi als Rechtsverteidiger eingelassen hatte und Philipp Lahm stattdessen im defensiven Mittelfeld aufbot. Erst Mustafis Verletzung zwang den Bundestrainer zu seinem Glück, Lahm zurück in die Viererkette zu beordern, wo er fortan zur Stabilisierung der Defensive weit besser beitrug.

Während Personalentscheidungen von den 80 Mio. Bundestrainern sehr kontrovers diskutiert werden und es für den einen hauptamtlichen nicht immer leicht ist, jeden dieser „Experten“ zufriedenzustellen, ist Löws Umgang mit Kritik aber in jedem Fall bedenklich zu nennen. 2018 z. B. tauchte er nach dem blamablen WM-Aus über Monate hinweg ab und entzog sich damit einer öffentlichen Debatte. Auch in der schwierigen Personalie Mesut Özil war von ihm nichts zu vernehmen – weder übte er Kritik an dessen allzu herzlichem Bekenntnis für den türkischen Autokraten Erdogan, noch nahm er ihn später in Schutz angesichts der teilweise rassistisch motivierten Reaktion vieler Menschen darauf.

Problematisch ferner, dass Löw es mit zunehmender Amtsdauer immer seltener für nötig erachtete, andere Bundesligastadien als jenes in Freiburg zu besuchen und sich dies in seiner Nominierungspraxis des Öfteren bemerkbar machte.

Trotz aller Kritik wird Löw bei vielen Deutschen immer der Weltmeister-Trainer bleiben – so wie vor ihm Herberger, Schön und Beckenbauer. Auch Schön hatte in den 1970ern primär von der Stärke einer goldenen Generation profitiert, mit der er in sieben Turnieren immerhin zwei Titel holen konnte. Am Beispiel des Kaisers, der mit einem Titel aus drei Turnieren die optisch beste Bilanz vorweisen kann, wird deutlich, dass es nicht immer überragender Trainerarbeit zu verdanken ist, einen WM-Titel zu gewinnen.

Man darf gespannt sein, wie Löw demnächst auf Vereinsebene agieren wird, wo er vor seiner Zeit als Bundestrainer relativ kläglich gescheitert war. Nach zwei erfolgreichen Jahren in Stuttgart Mitte der 1990er Jahre war er nacheinander in Istanbul, Karlsruhe, Adana, Tirol und Wien nur für kurze Zeit tätig. Beim KSC und bei Adanaspor trug er sogar wesentlich zum Abstieg bei. Aufgrund seines Status als Weltmeistertrainer wird er zukünftig bei größeren Adressen arbeiten dürfen. Mit seinem Standing und seiner Erfahrung wird er es vermutlich leichter haben als zu Beginn seiner Trainerkarriere. Ein warnendes Beispiel sollten ihm aber seine Vorgänger Derwall, Vogts und Klinsmann sein, die nach ihrem Job beim DFB auf Vereinsebene versagten. Mit Durchschnitt wird sich sein zukünftiger Verein aller Voraussicht nach nicht zufriedengeben.