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“Can Mönchengladbach play in this competition every year, please?” Mit dieser Frage beendete der Live-Ticker des Guardian am 30.0.2015 seine Berichterstattung vom fantastisch anzuschauenden 1:2 der Borussia in der Champions-League gegen Manchester City und ich kann mich gut erinnern, dieses Zitat sofort an diverse Whatsapp-Kontakte geschickt zu haben. Der Stolz, gegen einen übermächtigen Gegner ein tolles Spiel geliefert zu haben, überwog klar den Ärger, eine Führung noch verspielt zu haben. Das ist fünf Jahre her (Trainer war ein gewisser Andre Schubert), aber irgendwie charakterisiert es die Fortsetzung der Europapokalgeschichte Borussias nach 15 Jahren Pause: Man war froh wieder dabei zu sein, aber ganz im olympischen Sinne war das dann eigentlich auch schon alles. Schön mal eine Halbzeit gegen Barcelona mitzuhalten, ein 3:3 gegen Lazio im Hinspiel herauszuholen, aber die eigentliche Wahrheit lautete doch eher 0:4 im Nou Camp oder 0:4 im Etihad Stadium. Die Bundesliga sei das „Kerngeschäft“, konnte Max Eberl nicht häufig genug betonen und schon beim allerersten  Auftritt in der Europa-League bestätigte Lucien Favre das demonstrativ, in dem er 2012 in Limmasol eine B-Elf ein mühseliges 0:0 ergurken liess.

Gerade diese jüngere Vergangenheit macht den Wandel der Borussia in diesem Herbst umso bemerkenswerter. Noch vor zwölf Monaten schien es, als solle sich Borussia Europapokal-Apathie auch unter Marco Rose fortsetzen, aber angesichts des zu vollziehenden Umbruchs kann man Gladbachs Trainer wohl verzeihen, damals der Liga den Vorrang gegeben zu haben. Dass er im Prinzip gänzlich andere Ansprüche hat, als die bescheidene Vereinskultur der Vorjahre vermuten lässt, hat sich in den letzten Wochen gezeigt. Marco Rose gibt der CL klare Priorität, wie man unschwer an den Mannschaftsaufstellungen ablesen kann. Rocco Reitz mal eine Chance geben und ein bisschen Dreierkette probieren? Das geht doch prima in Mainz. Dauerläufer Lainer schonen, Lazaro mal als Rechtsverteidiger ausprobieren und Zakaria Spielpraxis geben? Da kommt Schalke gerade zur rechten Zeit in den Borussia-Park.

Womit wir dann auch beim Bundesligaspiel vom Samstag sind. Ein eher fahrige, unkonzentrierte erste halbe Stunde zeigte auf, dass Roses Kurs durchaus nicht risikolos ist. Schon in den acht Liga-Spielen zuvor hatte man Punkte verschenkt und eine Lücke zu den CL-Plätzen aufkommen lassen. Als man nun eine (zu dem Zeitpunkt glückliche) 1:0-Führung vergeben hatte und Marc Uth mit einem Freistoß an den Pfosten beinahe die Führung für die seit Monaten sieglosen Gelsenkirchener erzielt hätte, kamen schon so leise Zweifel auf, ob man sich da nicht so ein wenig verzockt hat. Dass Marco Rose sich der Gefahren komplett bewusst ist, zeigte seine Aussage nach dem Spiel, als er „nachvollziehbare Gründe“ für den Beginn seines Teams angab und einräumte, dass so was „auch mal nach hinten losgehen“ könne.

Es ging aber nicht nach hinten los, sondern man erzielte nach einem schönen Konter durch Wendt die Führung noch vor der Halbzeit und der S04 tat dann das, was krisengeschüttelte Teams nach einem Rückstand eben so tun: man kollabierte, so dass Gladbach dann in der zweiten Halbzeit mit zwei weiteren Treffern alles klarmachte und mit fünf Wechseln gegen Ende auch noch Kräfte schonte. Was die Experimente angeht, so merkte man Denis Zakaria schon die fehlende Spielpraxis an, was aber nach acht Monaten Pause kein Wunder ist. Stefan Lainer muss kurzfristig wohl nicht um seine Position bangen, da Valentino Lazaro als Außenverteidiger nicht so richtig glücklich wirkte.

Insgesamt hat die Borussia nun eine Bilanz von drei Siegen und einer Niederlage unmittelbar nach den bisherigen vier Champions-League-Partien, was zeigt, dass Marco Rose bei allem Risiko recht erfolgreich auf den Gebieten Rotation und Belastungsteuerung ist. Zur Belohnung sollte ihm jetzt gegen Inter Mailand eine halbwegs ausgeruhte nahezu Bestbesetzung zur Verfügung stehen. Neben Jonas Hofmann ist nur Ramy Bensebaini fraglich [Anmerkung der Redaktion: nach Veröffentlichung des Artikels erfuhren wir ob der Verletzung Elvedis, also von wegen Bestbesetzung!]. Ob der Algerier nach Covid-Erkrankung ähnlich schnell wieder in den Kader rutschen wird wie Alassane Plea in der Vorwoche, ist noch unklar. Man kann auf jeden Fall damit rechnen, dass Lainer und Stindl ins Team zurückkehren, vermutlich auch Christoph Kramer angesichts der noch fehlenden Matchpraxis von Zakaria.

Dass Inter Mailand am 5. Spieltag der Vorrunde als Gruppenletzter in den Borussiapark reisen würde, hätte man vor einigen Wochen kaum gedacht, aber man sollte die Milanesen deswegen keineswegs vorzeitig abschreiben. Mit einem Sieg morgen hat Inter immer noch alle Chancen sich für die K.o.-Phase der CL zu qualifizieren (falls Gladbach danach auch in Madrid verliert). In der Serie A lieferte man am Wochenende auch ohne den geschonten Lukaku einen starken Auftritt hin und gewann klar mit 3:0 beim vorher unbesiegten Überraschungsteam aus Sassuolo. Inter ist damit auf den zweiten Platz hinter dem Lokalrivalen AC gesprungen, also keineswegs ein Team außer Form, wie es die CL-Bilanz vielleicht nahelegt.

Es wird also ein ganz schweres Spiel am morgigen Abend, wie auch ein ganz wichtiges. Der erstmalige Einzug ins Achtelfinale der Champions League, seit dieser Wettbewerb in dieser Form geschaffen wurde, wäre ein Meilenstein für die Borussia. Sollte Real Madrid im Spiel am frühen Abend zuvor nicht in Donezk verlieren, würde schon ein Unentschieden zum Weiterkommen reichen. Aber nicht nur sportlich wäre das bedeutsam, sondern auch finanziell käme CL-Fußball im Frühjahr 2021 höchst passend für den VfL. Der "kicker" beschreibt in einem Artikel heute, dass die bisherige Planung in Gladbach nur die Teilnahmeprämie von 25 Millionen Euro berücksichtigt hat, Siegesprämien (bislang 7,2 Millionen) und Einnahmen aus weiteren Runden somit das Corona-bedingte Minus im Geschäftsjahr 2020 bedeutend mildern könnten. Für Borussia selbst würde das vielleicht nur Schlimmeres verhindern, aber im Vergleich zu anderen Bundesliga-Vereinen, die solche Einnahmen nicht haben, bedeutet es faktisch einen Vorsprung, der auf Jahre von Vorteil sein sollte.

Auch wenn möglich ist, dass Borussia das Spiel morgen verliert und eine Woche darauf das Weiterkommen gänzlich verpasst, so muss man sich diesmal zumindest nicht vorwerfen lassen, falsche Bescheidenheit an den Tag gelegt zu haben oder durch Bevorzugung des ehemaligen Kerngeschäfts BL seine Chancen vermindert zu haben. Dieses Gladbacher Team hat den Europapokal angenommen wie seit Jahrzehnten nicht mehr und allein das schon ist ein gewaltiger Fortschritt. Und wer weiß, vielleicht können wir die Frage “Can Mönchengladbach play in this competition every year, please?” bald mit einem emphatischem „YESSS!!!“ beantworten.

Die Tipps der Redaktion

Mike Lukanz: Gegen Schalke und Donezk zeigte Borussia zuletzt eine Eigenschaft, die ihr in den vielen ärgerlichen Spielen mit Punktverlusten noch teils grotesk abging: die eiskalte Chancenverwertung. In bislang keinem einzigen Pflichtspiel dieser Saison war die Mannschaft chancenlos, aber wegen absurder Fahrkarten vorne und gleichsam absurder Aussetzer hinten reicht es dann halt oft nicht. Nun also Inter Mailand, das sicher mit Schaum vorm Mund antreten wird, denn ein Aus in der Gruppenphase wäre für den einst so großen Klub eine Schande, wenn die Gruppengegner (aus Mailänder Sicht) nur Donezk und Mönchengladbach heißen. Ich erwarte daher einen heißen Tanz, aber Borussias bisheriges CL-Gesicht lässt mich optimistisch sein. Das 2:2 wird reichen, um das Achtelfinale zu erreichen. Was für ein Erfolg!

Uwe Pirl: Mailand oder Madrid - egal, der Punkt muss her! Borussia holt ihn schon gegen Mailand. Inter gleicht beim erneuten 2:2 in der 93. Minute aus.

Christian Spoo: Ohne die Bewachung durch Nico Elvedi kann sich Lukaku frei entfalten, auch das Fehlen von Ramy Bensebaini kommt Inter entgegen. Nach dem 1:3 müssen wir beginnen, uns auf die Euro League einzustellen.

Claus-Dieter Mayer: Es wird eng, aber diesmal schafft es die Borussia sich auch bis zur 95. Minute zu konzentrieren und bringt so das 1:1 über die Zeit.

Thomas Häcki: Mit einem Sieg sieht die Welt für Mailand schon ganz anders aus. Leider gelingt es mit einem 2:1 in der Nachspielzeit. Die Borussia ist in Madrid nunmehr im Handlungszwang.

Michael Heinen: Inter Mailand erweist sich als deutlich härteres Kaliber als zuletzt Donezk oder Schalke. Borussia hält zwar ordentlich mit, rennt aber dennoch lange einem 1:2-Rückstand hinterher. Als schon keiner (außer dem Spoorakel) mehr daran glaubt, bringt Igor de Thuram den Borussia-Park dann aber doch noch mit dem 2:2-Ausgleich in der 93. Minute zum (virtuellen) Beben.