AJ7X3122Seitenwahl 17Aug19

Nach dem knappen wie unglücklichen 1:2 beim alten und neuen Deutschen Meister FC Bayern München hat es Borussia Mönchengladbach wohl nicht mehr selbst in der Hand, in die ersehnte Champions League zu kommen und wird bei normalem Verlauf der Saison wieder in der ungeliebten Europa League auflaufen müssen. Das Spiel am Samstagabend in der Münchner Allianz-Arena bot dann auch in 90 Minuten einen schmerzhaften Schnelldurchlauf der gesamten bisherigen Saison. Ein kommentierender Nachbericht.

Auf dem Papier sah es vorm Anpfiff gut aus. Die Bayern waren seit dem 1:0 gegen Dortmund vor einigen Wochen faktisch durch mit der Titelverteidigung, hatten ein anstrengendes Pokalspiel gegen Frankfurt in den Knochen und in Lewandowski und Müller die Mehrheit ihrer Tore gelbgesperrt nicht im Team. Wie groß die personelle Not der Bayern war, zeigte sich alleine durch den Umstand, dass Mickaël Cuisance von Beginn an spielen durfte - was wiederum beim geneigten Borussen historisch bedingt erst für Schockstarre statt für Erleichterung sorgte. Jeder geschätzte Leser wird diesen kurzen Moment der üblen Vorahnung gespürt haben, wer sich in solchen Konstallationen gerne als Torschütze wird eintragen können.

Zum Glück unterstrich Cuisance auf dem Feld seinen sportlichen Wert für den Gegner und es entwickelte sich vom Anpfiff weg das Spiel, das sich alle Gladbacher erhofft und das alle Bayern befürchtet hatten, wenn es gegen den alten Rivalen geht. Borussia versteckte sich nicht, spielte gut bis sehr gut, hatte in der Halbzeit sogar mehr Ballbesitz - was den Bayern in der Liga zuletzt vor acht (!) Jahren passiert ist. Das 1:1 zur Pause ging insofern in Ordnung, als dass beide Tore faktisch Eigentore waren, beide Teams zuvor ziemlich armselig und freistehend ein eigenes Tor verpassten (Hernandez gegen Sommer und Embolo gegen Neuer).

Es macht jedoch an dieser Stelle wenig Sinn, chronologisch Spielszene für Spielszene durchzugehen. Wie schon im ersten Absatz angedeutet, entwickelte sich die Partie zu einer Art Spiegelbild der bisherigen Saison. Angefangen beim Pech (frühe Verletzung von Marcus Thuram) über subjektiv empfundene, ungleiche Behandlung durch die Schiedsrichter (Leon Goretzka darf völlig ungestraft den Ball wegnehmen und gleichzeitig reklamieren), spielerische Dominanz gegen einen nominell stärkeren Gegner (Ballbesitz, Torchancen, Zweikampfquote) über fahrlässig vergebene Chancen (Breel Embolo) bis zu individuellen Fehlern (Sommer vorm 0:1), kapitalen Konzentrationsschwächen (Wendt vorm 1:2) und nachlassender Überzeugung.

Vielleicht ist es dieser Umstand, der gerade die meiste Verzweiflung hervorruft. Wer wie wir und unsere lieben Leser diese Mannschaft seit der Übernahme von Marco Rose Woche für Woche sieht, der spürt und erkennt auch ohne Vereinsbrille, welches Potenzial die Mannschaft hat. Wie sie mit etwas mehr Spielglück und Konzentration durchaus den FC Bayern zwei Mal, RB Leipzig mindestens einmal und Borussia Dortmund wahrscheinlich sogar drei Mal hätte besiegen können, ja, müssen. Wie sie jedoch im gleichen Maße bei Union Berlin, Werder Bremen, FC Schalke oder SC Freiburg ohne Punkte und eigene Tore die Heimreise antritt. Wie sie in der Europa League peinlich in der Vorrunde an Mannschaften scheitert, von deren Existenz ein Gros im Vorfeld nicht einmal ahnte.

Max Eberl ist seit ein, zwei Wochen schon längst wieder in den Modus der Vorwärtsverteidigung gewechselt und will sich nicht einreden lassen, dass Platz 5 am Ende ein Misserfolg wäre. Und natürlich verweist er in diesen Momenten auf die Möglichkeiten der Konkurrenz, die Borussia schlichtweg nicht hat. So sehr dies ein argumentativer Reflex ist, so richtig ist es inhaltlich.

AJ7X7610Seitenwahl 19Sep19

Nach Borussias phänomenaler Hinrunde, die auf Rang 2 beendet wurde und fast zwei Monate die Tabellenführung beinhaltete, ging die von Eberl genannte Konkurrenz aus Dortmund, Leverkusen und Leipzig in der Winterpause noch einmal einkaufen. Dortmund holte in Erling Haaland aus Salzburg (20 Millionen Euro) und Emre Can von Juventus (1 Millionen Euro Leihgebühr) zwei Spieler auf Champions-League-Niveau, Leverkusen verpflichtete Ezequiel Palacias von River Plate (17 Millionen Euro) und Leipzig schließlich den spanischen Nationalspieler Dani Olmo aus Zagreb (19 Millionen Euro). Und warum taten sie das? Weil sie es können und mit aller Macht ihre Plätze an den Fleischtöpfen der Champions League verteidigen wollen. Borussia verpflichtete: niemanden.

Weitere Details? Auf transfermarkt.de wird die Transferbilanz der ersten fünf Mannschaften für diese Saison wie folgt ausgewiesen. FC Bayern Müchen: minus 89,5 Millionen. Dortmund: minus 23,25 Millionen. RB Leipzig: minus 24,5 Millionen. Bayer Leverkusen: minus 62,5 Millionen. Borussia: minus 1,4 Millionen. Allein Borussias größter Konkurrent um Rang 4, Bayer Leverkusen, hat ein annäherend doppelt so großes Transfersaldo als Borussia insgesamt Ausgaben getätigt hat.

Nun ist es weder Haalands noch Olmos Schuld, dass Borussia in Bremen nur ein torloses Remis hinbekommt. Aber im Laufe einer Saison sind es eben auch die Kleinigkeiten, die entscheiden - im Guten wie im Schlechten. Die Qualität der Kaderbreite ist so eine Kleinigkeit. Wie viele Punkte Haaland, Can oder Olmo ihren jeweiligen Klubs seit dem Winter ermöglicht haben, kann sich jeder ausrechnen. In Mönchengladbach hat man gesehen, welchen Unterschied ein Thuram, ein Plea, ein Zakaria und ein Lainer ausmachen. Und wie stark bisweilen der qualitative Fall ist, wenn Strobl, Johnson oder auch Wendt stattdessen spielen. Da kann es am Ende nicht schaden, im Winter mal kurz ins Portemonnaie zu greifen oder beim Investor respektive Konzern anzurufen, um die Qualität gezielt zu erhöhen. Max Eberl hat mir in einem Interview vor vielen, vielen Jahren einmal treffend gesagt: "Man kann Erfolg nicht garantieren. Aber man kann versuchen, den Misserfolg zu minimieren." Nichts anderes haben Dortmund oder Leipzig im Winter mit ihren Transfers versucht.

Dass Borussia am Ende des 31. Spieltags überhaupt da oben mitspielt, ist und bleibt fast ein Wunder. Im Übrigen ist der stetige Verweis auf den fünften Platz, den auch Hecking hinbekommen habe, nicht hilfreich. Denn Borussia unter Rose hat bereits jetzt mehr Punkte als Hecking nach 34 Spieltagen.

All dies soll keine Ausrede sein, es soll Einordnung geben und relativieren. Ja, Borussia scheint erneut eine sehr gute Ausgangsposition zu verspielen auf den letzten Metern. Aber zum gesamten Bild gehört schlicht mehr. Immerhin mehren sich die Stimmen auch am Niederrhein, die einen 5. Tabellenplatz nach dieser Saison ganz offen als Enttäuschung empfinden würden. Denn das wäre er trotz aller Relativierung. Um erneut Max Eberl zu zitieren: "Wenn die Konkurrenz schwächelt, wollen wir da sein." Die Konkurrenz hat geschwächelt, ziemlich heftig sogar. Selten schwächelt sie jedoch 34 Spieltage lang.

Zuletzt: Es ist Marco Roses erste Saison. Niemand bestreitet mehr, dass Rose die Mannschaft auf ein höheres, moderneres Niveau gehoben hat. Es macht wieder Spaß, Borussia Fußball spielen zu sehen. Dennoch braucht auch er noch etwas Zeit. Allerdings, und auch das ist eben Teil der Wahrheit, ist es aufgrund der völlig aus den Fugen geratenen Ungleichheit in der Liga fast schon Pflicht, sich für die Champions League zu qualifizieren, um sich dauerhaft für die Champions League qualifizieren zu können.

Es bleibt daher nur zu hoffen, dass diese Saison noch eine positive Wendung für Borussia nimmt. Auch wenn ein hier nicht näher genannter Kollege aus der SEITENWAHL-Redaktion gestern bemerkte: „Der Fußballgott ist bösartig.“

 

Kommentare der anderen Seitenwahlredakteure:

Claus-Dieter Mayer: In den vergangenen Jahren war die Borussia den Bayern entweder klar unterlegen oder aber sie nutzte ihre Chancen sehr effizient. Unglückliche Niederlagen in München war man fast schon nicht mehr gewohnt. Sei’s drum: wenn man am Ende nur Fünfter wird, so war es nicht der gestrige Auftritt der Schuld daran ist!