Die „Spaßveranstaltung“ Fußball sieht sich mit einem Image konfrontiert, das dem des Orchesters an Bord der „Titanic“ gleicht: Das Schiff sinkt, also warum wollen die noch spielen? Eine solche Einschätzung wäre dumm, schädlich und asozial. Das Schiff sinkt nicht, und Fußball ist wichtiger als zuvor.

Eine Vorbemerkung: Dieser Beitrag richtet sich nicht gegen irgendwelche Virologen. Jeder, ob Virologe, Ökonom, Psychologe oder Repräsentant einer anderen Berufsgruppe, kann sich äußern, wozu er will. In Krisenzeiten muß man auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Schädlich wird es, wenn Politiker meinen, sie könnten das Regieren den Virologen überlassen, und diesem Zustand nähern wir uns an. Glaubt man manchen Äußerungen, dann sind wir im Krieg, haben die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg und sollten Spaßveranstaltungen ganz unten auf die Aufgabenliste setzen. Nichts ist weniger wahr.

Wir sind nicht im Krieg. Ich kannte genug Leute, die im Krieg waren, und was diese Menschen über Jahre ertrugen (und was sie noch Jahrzehnte danach traumatisierte), ist ungleich härter als alles, was aktuell passiert. Ja, es spielen sich im Kranken- und Pflegesystem schreckliche Szenen ab, aber wenn das Krieg ist, dann ist jeder Feuerwehrmann, der Leichen aus Autos schneidet, die sich um Bäume gewickelt haben, täglich im Krieg. Das könnte man so sehen, doch Formen von „Dauer-Krieg“ bringen uns in der Einschätzung der Situation nicht weiter.

Wir haben auch nicht die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich lade Frau Merkel ein, mit diesem Slogan auf Wahlkampftour in Sachsen-Anhalt zu gehen. Die sich momentan abzeichnende Krise wird voraussichtlich größer sein als die Finanzkrise vor gut zehn Jahren. Die Wende jedoch vor dreißig Jahren hatte in weiten Teilen Deutschlands kurz- und langfristige wirtschaftliche und soziale Folgen, von denen wir derzeit noch weit entfernt sind.

Die Gefahr, daß wir uns in eine solche Richtung entwickeln können, darf jedoch nicht unterschätzt werden. Dies wäre dann aber nicht die Folge der chinesischen Grippe, sondern die Konsequenz der politischen Reaktion auf sie. Wir retten aktuell kurzfristig tausende, vielleicht zehntausende Leben. Das ist sehr gut, aber nicht alternativlos – das Wort „alternativlos“ ist ein Kennzeichen totalitärer Systeme. Wir erkaufen dies nämlich langfristig mit Millionen gefährdeten oder zerstörten wirtschaftlichen Existenzen, was wiederum massiv Gesundheit und Leben zerstört.

Ich bin Ökonom, kein Virologe. Ich sehe jeden Tag Kleinbetriebe mit verzweifelten Arbeitgebern und -nehmern, deren wirtschaftliche Not sich in psychische, soziale und letztlich gesundheitliche Probleme übertragen wird. Natürlich gewähren die Staaten, die es sich noch leisten können, gewaltige Wirtschaftshilfen, die aber notwendigerweise zeitlich und inhaltlich begrenzt sein werden und zudem vor allem von denen (über zukünftige Steuereinnahmen) zurückgezahlt werden müssen, denen sie kurzfristig zugutekommen sollen. Mit anderen Worten: Der Staat versucht vorne halbwegs zu erhalten, was er hinten mit seinem Arsch zertrümmert.

In Belgien hatten wir an einem Tag im Februar auf allen Bahnlinien des Landes zusammengenommen sieben Selbstmorde. Sieben. An einem Tag. Auf die Bevölkerungszahl Deutschlands umgerechnet wären das 53. An einem Tag. Hierüber darf in Belgien nicht berichtet werden, um keine Nachahmer zu ermutigen. Nicht berücksichtigt: aufhängen, Tablettenmißbrauch und noch Unappetitlicheres. Und das war vor der Krise. Aktuell berichten Hilfskräfte über einen massiven Anstieg häuslicher Gewalt, und psychische Probleme steigen flächendeckend. Weniger Einkommen bedeutet auch weniger Ausgaben für die Gesundheitsvorsorge. Alte Menschen werden isoliert, damit sie enkelfrei und einsam sterben. Das alles ist nur der Anfang. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß eine Verschärfung dieser Situation langfristig tausende, vielleicht zehntausende Leben fordern wird.

Und damit kommen wir zum Spaß. Spaß an sich ist und bleibt wichtig, aber hier geht es um noch mehr als das. Fußball ist nicht einfach Spaß. Fußball ist auch nicht einfach ein Wirtschaftsfaktor. Fußball gibt der Woche Struktur und setzt damit einen stabilen Rahmen. Er ist ein Ventil, das Frustration und Aggression in positive Emotion verwandeln kann. Er hat eine soziale Funktion, die weit über physische Nähe hinausgeht. Er ist etwas, auf das man sich freut und das jeden Tag ablenkt. Es gibt kaum etwas, wo so wenig real passiert und worüber gleichzeitig so viel mit positiver Emotionalität gesprochen wird. Nichts davon ist neu, aber gegenwärtig wird dies massiv unterschätzt – ja man muß sich fast entschuldigen, wenn man es erwähnt.

Es ist auch nicht so, daß der Mensch nun den Spaß bis 2021 nur noch einzeln in seinem Keller ausleben wird. Vielleicht haben wir in der Vergangenheit im Alltag den Spaßfaktor zu sehr überbewertet. Im Umkehrschluß heißt das jedoch nicht, daß wir jetzt über Monate oder Jahre („Fußball frühestens 2021“ – was heißt denn das? 2022 dann?) alle 24/7 ernst, einsam und gehorsam vor uns in vegetieren werden. Ich trage die aktuellen Maßnahmen mit, weil ich sie als sinnvoll erachte – für drei, maximal fünf Wochen. Danach nicht mehr. Nicht weil ich asozial bin, sondern weil das Gegenteil der Fall ist: Weil eine Gesellschaft nur sinnvoll existiert, wenn ihre Mitglieder ihren ganz normalen Aktivitäten nachgehen können – denn dies rettet auch Leben, weil es überhaupt erst die wirtschaftliche und emotionale Basis des Lebenserhalts formt.

Der Ball muß im Mai, spätestens im Juni wieder rollen, daran habe ich keinen Zweifel. Ich bin genauso wie die allermeisten kein Freund von Geisterspielen, aber ich kann von professionell Berufstätigen erwarten, daß sie knapp zweistündige Veranstaltungen in Kleingruppen regelmäßig und risikominimal organisieren können. Ich denke auch nicht, daß es seitens des Sports hierzu ernsthaft Widerspruch gibt. Daß Geisterspiele den Anlaß böten für Gruppen von Fans, sich außerhalb des Stadions zu versammeln, kann ich als Gegenargument nicht akzeptieren: Viele werden sich ab Mai oder Juni nicht mehr einsperren lassen, sondern mit Freunden feiern, egal wo und wie; erst im kleineren Kreis, aber immerhin. Ich auch. Egal, wie die Regeln sein werden.

Ich habe es versucht, samstags um halb vier: Borussia gegen die falsche Borussia, 1978, 12:0, als Re-Live mit über 40 Jahren Verzögerung. Nach fünfzehn Minuten habe ich ausgeschaltet und auf dem Internet gesucht, ob es irgendwo irgendetwas live gibt, und wenn es Hüntertüpfüng gegen Entenhüsün wäre, fünfte türkische Liga. Keine Konserve ersetzt die Emotionalität des Live-Events, und wenn er virtuell wäre. Gut, daß es noch das Schach-Kandidatenturnier für die WM gibt. Ach ja, das wurde ja soeben abgebrochen.

Es geht hier nicht um ein Milliardengeschäft, sondern die ganz einfachen Grundlagen. Wir brauchen Live-Fußball aus einer Vielzahl von wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Gründen. Der Fußball wird uns allein nicht aus der Krise führen, aber er gibt uns Kraft, Energie, Spaß. Spaß muß sein. Kurzum: Wir brauchen Live-Fußball, wenn wir gesund bleiben wollen.