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Der Mensch als solcher pflegt einen sentimentalen Hang zur Nostalgie zu haben, verklärt  gern eine Vergangenheit, der man (wie auch all ihren Vorgängerinnen) zu ihrer Zeit auch stets vorgehalten hat, dass früher alles besser gewesen sei.  Fußballfans sind da keine Ausnahme  und dieser wehmütig Blick in die Geschichtsbücher ist besonders dann stark ausgeprägt, wenn der eigene Verein irgendwann mal relativ erfolgreich war, die Gegenwart jedoch trist aussieht. So erging es über viele Jahre den Anhängern der Mönchengladbacher Borussia, vor allem damals, als man sich doch nur als Mythos die Ehre geben wollte und von undankbaren aufmüpfigen Zweitligateams gedemütigt wurde. Wenn die volle Kraft nach vorn ausbleibt, kann man sich halt nur noch an den stolzen Blick zurück klammern.

Dass diese düsteren Zeiten sich zu Ende neigten, merkte man vor einigen Jahren auch daran, dass die Formulierung “der/die/das beste xxx seit 19yy” immer wieder zu lesen war. Mal hatte Lucien Favre zeitweilig einen besseren Punkteschnitt als Hennes Weisweiler, mal gewann man unter Dieter Hecking soviel Heimspiele in Folge wie zuletzt 1983/84 unter Jupp Heynckes. Dieses Jahr lag unter dem Weihnachtsbaum nun die beste Hinrunde seit 1976/77.  Bevor schon bald der hektische Bundesligaalltag zurückkehrt, wollen wir uns doch kurz die Zeit nehmen, diese beachtliche Leistung zu würdigen, und zwar mit einer historischen Einordnung. Wir haben uns die 10 besten Hinrunden der Gladbacher Bundesliga-Geschichte mal etwas genauer angeschaut. Legt man  dabei die 3-Punkte-Regel zugrunde erhält man folgende Rangliste (in Klammern jeweils die Bilanz gemäß der alten 2-Punkte-Reglung)

Platz 10: Saison 2011/12 33 Punkte (23:11), Torverhältnis 25:11, Rückrunde: 27 Punkte

Platz 9: Saison 2013/14: 33 Punkte (23:11), Torverhältnis 35:19, Rückrunde: 22 Punkte

Platz 8: Saison 1974/75: 33 Punkte (23:11), Torverhältnis 41:24, Rückrunde: 38 Punkte

Platz 7: Saison 2018/19: 33 Punkte (23:11), Torverhältnis 36:18, Rückrunde: 22 Punkte

Platz 6: Saison 1971/72: 33 Punkte (23:11), Torverhältnis 47:19, Rückrunde: 28 Punkte

Platz 5: Saison 1975/76: 34 Punkte (25:9),   Torverhältnis 35:15, Rückrunde: 27 Punkte

Platz 4: Saison 1970/71: 34 Punkte (25:9),   Torverhältnis 41:16, Rückrunde: 36 Punkte

Platz 3: Saison 2019/20: 35 Punkte (24:10), Torverhältnis 33:18, Rückrunde: ? Punkte

Platz 2: Saison 1976/77: 39 Punkte (27:7),  Torverhältnis 37:16, Rückrunde: 22 Punkte

Platz 1: Saison 1969/70: 39 Punkte (27:7),  Torverhältnis 40:13, Rückrunde: 35 Punkte

Ein paar Anmerkungen zu dieser hübschen Anhäufung von Zahlen:

  1.  Die diesjährige Hinrunde war nicht nur relativ zu unseren Erwartungen bemerkenswert, sondern auch im Vergleich mit Borussias illusterer Vergangenheit. Die drittbeste erste Saisonhälfte aller Zeiten! Das darf man gern schon mal genießen. Selbst wenn man die alte Punkteregel anwendet, landet man immer noch auf Platz 5 und nur in Meisterjahren punktete man besser im Herbst als 2019.
  2. Auch wenn sich  auf den ganz vorderen Plätzen erwartungsgemäß die goldenen 70er Jahre tummeln, so fanden 4 der 10 besten Hinrunden im gerade abgelaufenen Jahrzehnt statt. Seit 2011 erleben wir eine der besten Phasen der Gladbacher Vereinsgeschichte. Dass dies belang noch nichts „Blechernes“ für die Vereinsvitrine abgeworfen hat, liegt nicht nur daran, dass die letzten Jahre zwar  gut aber nicht ganz so gut wie die 70er waren, sondern auch daran, dass der Vorsprung der jeweils dominanten Teams gewachsen ist. In ihren 5 Meisterjahren holte die Borussia zwischen 61 und 74 Punkte. In den letzten 9 Spielzeiten hätte das nie zum Titel gereicht.
  3. In 8 von 10 Fällen war die Ausbeute in der folgenden Rückrunde schlechter. „Zufall“ mag der eine sagen „Typisch Gladbach, in der Rückrunde verspielen sie es dann!“ der andere. Beides stimmt nicht ganz, denn hätten wir die entsprechende Rangliste für einen beliebigen anderen Verein erstellt, hätten wir ähnliches festgestellt. Ebenso würden wir, wenn wir statt der besten die schlechtesten Hinrunden ausgewählt hätten eine Tendenz von besseren Rückrunden feststellen können. Der Grund ist das wohlbekannte statistische Phänomen der „Regression zur Mitte“, welches besagt, dass besonders über- (oder unter-) durchschnittlichen Beobachtungen typischerweise  normalere Ergebnisse folgen. Das Außergewöhnliche kann sich nicht ständig wiederholen, sonst wäre es halt nur noch gewöhnlich.
  4. Manch einer mag sich wundern, wo hier denn die guten 80er Jahre unter Heynckes bleiben. „Knapp dahinter“ ist die Antwort, 83/84 und 85/86 kam man z.B. auf 32 Punkte. Auch wissen wir, dass viele unsere Leser immer noch Sympathien für Andre Schubert hegen. Das große Schubidu von 2015 schaffte es aufgrund der 5 Auftaktniederlagen unter Favre nicht in unsere Liste. Nimmt man nur Schuberts Punkteschnitt aus seinen ersten  12 Spielen so liegt der mit 2.42 knapp über dem von Weisweiler und  Lattek in den beiden Topjahren (dass dieser Schnitt in den folgenden Halbjahren auf 1.53 und dann gar auf 1 sank, ist ein weiteres Paradebeispiel für die Regression zur Mitte)

Und was ist jetzt die Moral von der Geschichte? Nun vielleicht gibt es keine, aber zunächst mal wollen wir festhalten, dass das vergangene Halbjahr etwas Besonderes war, und zwar nicht nur in unserer Wahrnehmung, sondern hiermit auch faktisch belegbar. Auf der anderen Seite sollte man seine Erwartungen für die Rückrunde nicht zu hochschrauben. Zwar gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass es unter Marco Rose jetzt so weitergeht wie einst bei Schubert oder Wolf Werner, der in seiner ersten Halbsaison 87/88 auch immerhin 32 Punkte (22:12) holte nur um die Mannschaft im folgenden systematisch herunterzuwirtschaften, aber von der Regression zur Mitte wird die Borussia auch diesmal vermutlich nicht verschont werden. Deswegen ist es auch eine etwas naive Rechnung jetzt zu sagen: Das geht so weiter und wir holen 70 Punkte (so schön das auch wäre). Das Ziel muss angesichts der Ausgangslage natürlich das Erreichen der Champions-League sein. In der Vergangenheit reichten meist 60 Punkte dafür, was ein Minimalziel von 25 Punkten für die Rückrunde bedeutet. Wer meint, das sei aber lächerlich niedrig sei daran erinnert, dass die Borussia nach 3 der 10 besten Hinrunden an dieser Hürde scheiterte und selbst Bonhof, Heynckes, Simonsen und Co 1977 mit einer 22 Punkte Rückrunde fast noch die Meisterschaft verspielten.