Zurzeit ist es nur Getuschel. Hinter vorgehaltener Hand, mit den besten Freunden über WhatsApp fällt es vielleicht mal, dieses Wort, sogleich begleitet von irgendetwas Relativierendem. Niemand käme auf die Idee, es öffentlich zu sagen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Warum, so fragen wir, sollten wir nicht darüber reden? Sollte das Unerwartete eintreten, werden Sie sich bitte erinnern, es hier zuerst gelesen zu haben: Ja, Borussia Mönchengladbach kann Deutscher Meister werden! Oder?

Nachdem Ihnen, lieber geschätzter Leser, das gerade eingesetzte spöttische Lachen gegönnt war, wollen wir am Anfang sogleich die üblichen Argumente abfrühstücken, die unsereins nach Jahren und Jahrzehnten ins Hirn eingespeichert hat: das (tragische) Scheitern als Vereins-DNA, das Image des stets sympathischen Verfolgers und Ausbildungsvereins, der es nie zu den ganz Großen geschafft hat. (Das ist im Übrigen bemerkenswert falsch, denn in den 1970er-Jahren war Gladbach eine der besten Mannschaften der Welt. Und das fast ein Jahrzehnt lang.). Und überhaupt: Natürlich sind „wir“ viel zu schwach dafür und „die anderen“ viel zu stark. Doch ist das wirklich so oder ist der Blick durch die vergangenen Jahre schlicht vernebelt?

Doch der Reihe nach. Die vergangenen Jahre haben ins kollektive Gedächtnis gebrannt, dass es nur zwei Vereine geben kann, die Meister werden können, ja, es quasi nur dürfen. Der ewige FC Bayern und Borussia Dortmund. Das unerträgliche und permanente Gefasel vom deutschen „Klassiker“ hat sein Übriges getan. Dass der BVB seit Jahren schon chancenlos ist und maximal mit viel Wohlwollen als „Best of the Rest“ bezeichnet werden kann, interessiert die in großen Teilen auf Personenkult und Dramatik gepolte Medienlandschaft schon lange nicht mehr. Inzwischen rückt noch das Kunstprodukt aus Leipzig in die Reihe möglicher Titelkandidaten. Woche für Woche wird beim Vorlesen der Tabelle lediglich der Punkteabstand zwischen Dortmund und Bayern erwähnt, selbst wenn es zwischenzeitlich nur der Abstand zwischen dem Tabellenzweiten und -achten ist. Dass der „kicker“ trotz weniger Siegen, mehr Unentschieden, mehr Gegentoren und weniger eigenen Toren bislang mehr Spieler des BVB in die „Elf des Tages“ berufen hat als Gladbacher Profis, unterstreicht diesen Blick nur. Von Joachim Löws Ignoranz, Leistungen am Niederrhein anzuerkennen, mal ganz zu schweigen.

Das ist aber alles irgendwie kein Wunder, denn auf der Suche nach dem letzten Deutschen Meister abseits der beiden Genannten muss man die Uhr schon weit zurückdrehen. 2007 gewann der aktuelle Zweitligist VfB Stuttgart den Titel (Anmerkung: Titel von Werksklubs wie dem VfL Wolfsburg werden aus offensichtlichen Gründen ignoriert). Das sind mehr als zwölf verdammt lange Jahre. Davor noch Werder Bremen 2004 und der 1. FC Kaiserslautern 1998, macht drei Vereine in über 20 Jahren. Und selbst der zum „Dauerrivalen“ stilisierte BVB hat seit eben diesem Jahr 1998 von 42 möglichen Titeln in Liga und Pokal nur fünf gewonnen. Man wird in deutschen Redaktionsstuben offenbar genügsam, um der Einseitigkeit der Liga argumentativ etwas dagegenhalten zu wollen.

Warum also der ganze Vorspann? Nun, um die eingangs genannte Behauptung nüchtern zu betrachten, braucht es eine gewisse Einordnung. Fußballfans sind qua natura nicht besonders objektiv, die permanente mediale Beschallung tut ihr Übriges. Jetzt, wo unsere Hirne hoffentlich etwas aufgeräumter und nüchterner sind, sei ein Blick auf die aktuelle Saison erlaubt. Es ist ein Drittel gespielt, Gladbach steht seit mehreren Wochen an der Tabellenspitze. In der letzten Länderspielpause hieß es, dass die Gegner der ersten Spieltage irgendwie auch geschlagen werden müssten. Klar, aber man frage mal in München, Dortmund oder Leipzig, die hatten sich das auch gedacht. Dann kamen die sogenannten „Wochen der Wahrheit“. Nun, die Wahrheit ist, dass der Vorsprung an der Spitze seither weiter ausgebaut wurde und Borussia es in der Europa League (wieder) in der eigenen Hand hat, die nächste Runde zu erreichen. Einzig die beiden Niederlagen gegen den BVB nerven, weil beide so unglaublich vermeidbar. Das Gefühl, dass dieser BVB nicht schlagbar ist, sollte am Niederrhein indes niemand mehr haben.

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Ein weiterer zu beobachtender Reflex ist, dass alles, was zurzeit für Borussia spricht, schnell als „Glück“, „Zufall“ oder „außergewöhnliche Form“ relativiert wird. Yann Sommer hält Elfmeter? War aber auch schwach geschossen! Patrick Herrmann ist in starker Form? Das wird sich wieder ändern! Selbst die Linksverteidiger schießen schon Tore? Ist das Glück des Tabellenführers! Und überhaupt, diese ganzen glücklichen Tore in der Nachspielzeit, wenn die nicht wären! Tore in der Nachspielzeit bedeuten jedoch auch, dass eine Mannschaft bis zur letzten Sekunde daran glaubt und dafür arbeitet.

Gleichzeitig wird den klassischen Konkurrenten aus München und Dortmund per se noch viel mehr zugetraut. „Die kommen schon noch“, heißt es dann. Und wenn man schon in Konjunktiven bei der eigenen Mannschaft denkt: Hat eigentlich mal jemand ausgerechnet, wo der FC Bayern aktuell ohne die Tore von Robert Lewandowski stünde, von denen er die Hälfte auch noch im Alleingang vorbereitet hat?

Weder Breel Embolo noch Lars Stindl haben bisher, aus verschiedenen Gründen, ihre Topform erreicht. In Leverkusen wird selbst ohne einen derzeit überragenden Denis Zakaria gewonnen. Abwehrchef Ginter fällt aus? Kein Problem, für Eintracht Frankfurt reicht es trotzdem. Zwischenzeitlich elf Verletzte, darunter viele vermeintliche Stammspieler. Tore fallen nach Standards, durch Einzelleistungen, herausgespielt oder erzwungen. Und immer bleibt das Gefühl, dass spielerisch noch Luft nach oben ist. Borussia hat die zweitbeste Abwehr der Liga, den drittbesten Angriff, die meisten Siege, die zweitbeste Tordifferenz, in Yann Sommer zurzeit den besten Torwart der Liga. Das alles zusammen ist weder Zufall noch Glück.

Und der Trainer Marco Rose guckt sich das alles erstaunlich ruhig von außen an. So aktiv er während der Spiele an der Seitenlinie agiert, so sachlich, ja, fast unterkühlt wirkt er Interviews nach Spielende. Er spricht von „nächsten Schritten“, von „gut umgesetzten Plänen“ und lobt die Moral seiner „Jungs“, ganz so, als ob er gerade eine talentierte C-Jugendmannschaft trainiert. Einzig sein Lächeln verrät ihn bisweilen, als wolle er sagen: „Ihr werdet Euch noch alle wundern!“

Um Meister zu werden, braucht es besondere Konstellationen, unbestritten. Max Eberl betont aber nicht umsonst seit Jahren, dass man „da sein“ müsse, wenn die anderen schwächeln. Ab Spieltag 25, 26 ist es ohnehin nur noch Kopfsache. Wer bis dahin oben steht, kann auch Meister werden. Die zuletzt gehörten Vergleiche mit Leicester City hinken, denn Leicester war in deren Sensationsjahr im Vergleich schwächer als Borussia in der aktuellen Bundesliga.

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Der mediale Blick wird, eine Fortsetzung des Status quo vorausgesetzt, früher oder später Richtung Niederrhein wandern und damit der Druck steigen. Unbestritten ist, dass einzig die Bayern und vielleicht noch Leipzig diesen großen tabellarischen Druck ausüben können, unter dem vergangene Saison schon der BVB zusammengefallen ist. Dieses Gefühl, kein Spiel mehr verlieren zu dürfen, der Gejagte zu sein, kann Hirne und Beine schwer machen. Es fehlt zurzeit einzig die Phantasie, dass in München dieser letzte Funken Motivation vorhanden ist nach sieben Titeln in Serie. Was Leipzig ganz nüchtern betrachtet zum gefährlicheren Konkurrenten werden lässt.

Ohne Frage, die Konstellation ist günstig in dieser Saison. Erschreckend vieles lässt zurzeit das Unmögliche möglich erscheinen. Und dass hier das Wort „erschreckend“ fällt, ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass eben nicht sein kann, was irgendwie nicht sein darf.

Zugegeben, es ist nur ein Gedankenexperiment. Dass wir dies jedoch so offen tun können, ist schon jetzt der eigentliche Gewinn dieser Saison. Borussia und ihre Fans werden es sich im Zweifel nur zutrauen müssen. Dann bitte ohne spöttisches Lachen.  

Das sagt die SEITENWAHL-Redaktion:

Uwe Pirl:Kann Borussia Mönchengladbach Deutscher Meister werden? Vor der Saison hätte man wohl keinen Gedanken daran verschwendet, sich mit dieser Frage überhaupt ernsthaft auseinandersetzen zu müssen. Zu sehr hallte die verheerende Rückrunde der letzten Saison nach, zu schwer wogen die Zweifel am Charakter der Mannschaft, zu groß war die Unsicherheit, ob das von Trainer und Managerausgerufene neue Konzept greifen würde. 11 Spieltage später steht die Mannschaft mit 4 Punkten Vorsprung an der Tabellenspitze und natürlich kommt die Frage nach der Meisterschaft nun hoch. Natürlich ist es richtig, dass es in den letzten Jahren viele selbsternannte und auch von der Presse gekürte Meisterschaftskandidaten, Bayern-Konkurrenten oder Bayern-Verfolger gegeben hat und dass in der Regel am Ende der Meister Bayern München hieß. Natürlich trifft es zu, dass bei Borussia Mönchengladbach niemand das Etikett „Weltklasse“ verdient, das man zweifellos Lewandowski und an guten Tagen auch ein paar anderen Spielern der Konkurrenz aus München, Dortmund und vom Getränkevertrieb Salzburg umhängen kann.

So liegt es auch nahe, aus diesen Punkten zu schließen, dass Borussia Mönchengladbach derzeit zwar Tabellenführer ist, aber zu diesem frühen Zeitpunkt der Saison noch kein Meisterschaftskandidat, geschweige denn ein Meisterschaftsfavorit. Andererseits gab es immer wieder und in allen Ligen Überraschungsmeister, mit denen niemand gerechnet hatte – man denke an Nottingham Forest in den Siebzigern, Kaiserslautern in den Neunzigern, den VfL Wolfsburg und zuletzt Leicester City. Warum sollte also Borussia Mönchengladbach nichts Vergleichbares gelingen? Der Trainer selbst scheint ein Glücksgriff zu sein – einer, der das Klinsmannsche Versprechen, jeden Spieler besser zu machen, einzulösen scheint. Einer, der nicht bedingungslos „sein“ System durchzieht, sondern dieses in Abhängigkeit vom jeweiligen Gegner und der eigenen Aufstellung zu variieren versteht. Einer, der nicht nur mit „seinen“ Neuzugängen etwas anfangen kann, sondern der auch bei langjährigen „Vollrauten“ wie Jantschke und Herrmann neue Qualitäten zum Vorschein bringt. Das wiederum führt dazu, dass Borussia Mönchengladbach von den derzeitigen Spitzenteams vielleicht über die breiteste Qualität im Kader verfügt. Gefragt, ob Mönchengladbach Meister werden kann, würde ich deshalb mit einem klaren „Ja!“ antworten, gleichzeitig aber davor warnen, die Meisterschaft zu erwarten. Können heißt nicht müssen und wenn am Ende kein Pokal oder keine Schale zum Hochhalten rauskommt, sondern die Normalität eines vierten oder fünften Platzes und der Teilnahme am Achtelfinale der Europa League, sollte niemand traurig sein, sondern sich der Freude erinnern, die uns die Mannschaft im Herbst 2019 bereitet hat.

Thomas Häcki: Kann die Borussia Meister werden? Selbstverständlich! Die Borussia spielt überragend und die Bayern schwächeln deutlich und geben sich nicht als Einheit. Der Haken ist nur, dass die Diskussion aus dem vergangenen Jahr ist und ich von der Borussia aus Lüdenscheid rede. Es kam bekanntlich anders und am Ende waren die Hummeln so weit von der Meisterschaft entfernt wie eh und je in den vergangen Jahren. Das zeigt, wie unsinnig die Diskussion um eine Meisterschaft zu diesem Zeitpunkt ist. Weitere Beispiele? Hoffenheim war sogar Herbstmeister und schaffte am Ende nicht einmal den Sprung ins internationale Geschäft.

Meisterschaften werden in der Regel im letzten Saisondrittel entschieden und hier zählen weniger Kader und Spielsystem sonder schlicht und ergreifend Nerven und der Kopf. Und schon mancher hat auf der Zielgraden eine überragende Saison verspielt. Leverkusen, Schalke, Frankfurt und Hertha BSC lassen grüßen. Ob es der echten Borussia auch passiert, lasse ich mal dahingestellt, doch vieles spricht dafür, dass es am Ende nicht zum großen Sprung reichen wird. Muss es auch nicht, den schon das Erreichen einer der ersten vier Plätze wäre ein großartiger Erfolg für ein Team, das zu Saisonbeginn in seinen Grundfesten umgemodelt wurde. Insofern ist die Meisterschaftsfrage eine Träumerei, die besonders von der schreibenden Zunft befeuert wird. Träumen ist erlaubt, aber man sollte nicht zu sehr entäuscht sein, wenn man vor dem 34. Spieltag aufwacht. Das Ergebnis wird sich vorraussichtlich auch so sehen lassen können.

Claus-Dieter Mayer: Ob Gladbach Meister werden kann? Zunächst mal danke der Nachfrage, das ist total lieb! Das Schöne dabei ist, dass die Frage noch nicht mal komplett bescheuert ist, sondern nur noch bescheuert. Also völlig ausschließen kann man es nicht mehr. Das liegt zum einen daran, dass die Tabelle nach 11 Spieltagen allmählich beginnt, Aussagekraft zu gewinnen und wer dort mit 4 Punkten Vorsprung führt, tut dies nicht aus purem Zufall. Auch hat man den Eindruck, dass das Team von Woche zur Woche besser wird und hier und da auch noch Platz nach oben hat. Hinzu kommt, dass die Konkurrenz bisher pennt. Was zusätzlich Hoffnuung macht, ist, dass die neue taktische Ausrichtung einhergeht mit einer neuen Bissigkeit in der Mannschaft, der einen Abfall wie im letzten Saisondrittel 2011/12 oder 2018/19 unwahrscheinlicher scheinen lässt.

Warum es trotzdem nicht passieren wird? Weil zwar jeder der oben genannten Punke (weitere Steigerung, kein Einbruch, Versagen der Konkurrenz, etc) für sich genommen eine realistische Wahrscheinlichkeit mit sich bringt, aber Borussia nur dann Meister werden kann, wenn alles gleichzeitig eintritt. Das wäre in etwa so als ob Patrick Herrmann zwei Tore schiesst und Yann Sommer am gleichen Tag einen Elfmeter halt. Das sollten wir daher mal tunlichst vergessen...

Michael Heinen: Wenn ein Karl-Heinz Rummenigge beim Abschied des Moralwichtels Ulrich H. scherzt, Mats Hummels wäre die Vizemeisterschaft zu gönnen und damit automatisch impliziert, Deutscher Meister könne ohnehin nur der BVB oder eben der FC Bayern werden, dann ist das angesichts der aktuellen Tabellensituation ein weiteres Exempel bajuwarischer Arroganz. Ganz Unrecht hat er damit aber leider nicht: Eine Sensations-Meisterschaft der (echten) Borussia ist in der modern-kommerzialisierten Fußballwelt tatsächlich nur noch möglich, wenn die Bayern vieles falsch machen und wenn Borussia konstant ohne (größere) Krise durch die Saison kommt. Ersteres hat sich dank der zunehmenden Senilität in der bayerischen Führungsetage bislang erfüllt. Der vorhersehbare Abgang des Duos Robben/Ribery wurde über Jahre hinweg nur halbherzig vorbereitet. Für Lewandowski, den Alleinunterhalter im Sturm, ist überhaupt kein Ersatz mehr vorgesehen. Und als Höhepunkt all der Fehlplanungen wird Management-Azubi Brazzo Salihamidzic trotz erkennbarer Unfähigkeit zum Sportvorstand befördert. Den offenbar besten "Beleg" für seine vermeintlich gute Arbeit in den letzten 2 1/2 Jahren soll der Einkauf des zweifelsohne talentierten Alphonso Davies darstellen - ein Spieler, der bislang gerade einmal 442 Spielminuten für die Bayern auf dem Platz stand und der mit einer Ablöse von bis zu 18,8 Mio. € in München als "Schnäppchen" durchgeht. Uns kann dies alles nur Recht sein, denn wehe die Bayern würden die brazzosche Transferbilanz einmal mit der von Max Eberl abgleichen...

Allein vor dieser Saison wurden in Mönchengladbach Thuram, Lainer, Embolo, Bensebaini sowie Rückkehrer Benes für ungefähr dasselbe Geld verpflichtet, das der kleine Bruder von Eden Hazard, Lang, Drmic und das französische Aschenputtel in Diensten der bayerischen U23 eingebracht hatten. Dazu der Tausch des erfahrenen, aber zunehmend biederen Old-School-Trainers Hecking gegen den modern-fortschrittlichen Marco Rose. Borussia hat diesen Sommer genauso viel richtig gemacht wie die Bayern falsch. Nur so ist es überhaupt möglich, den vierfachen Umsatzvorsprung des Rekordmeisters zumindest zeitweilig zu kompensieren. Wie lange dieses "zeitweilig" andauert, ist die entscheidende Frage. Bislang sind gerade einmal ein Drittel aller Spiele absolviert. Nach aller Logik und Erfahrung wird es irgendwann im Laufe der nächsten 2/3 noch zu einer Krisensituation kommen. Dies ist umso wahrscheinlicher als dass der derzeit so faszinierende Rose-Fußball enorm viel Kraft kostet und zudem die Gefahr von (muskulären) Verletzungen fördert. Bislang kann all dies durch den bemerkenswert breiten Kader aufgefangen werden. Zudem spielen nicht alle, aber sehr viele Borussen am obersten Limit ihrer (bisher gezeigten) Leistungsfähigkeit. Aber die Saison ist noch lang und es ist fraglich, ob die Mannschaft über weitere sechs Monate hinweg konstant ihre Topform halten und die offensichtliche Belastung am Limit wie in den vergangenen Wochen mit ihrem unbändigen Willen und ihrer Moral kompensieren kann.

Mit den Bayern, dem BVB und auch Leipzig stehen drei Vereine bereit, die in ihrer Entwicklung schon weiter sind als die neuformierte Fohlenelf. Es spricht leider viel dafür, dass mindestens einer dieser Klubs am Ende vor Borussia ins Ziel einlaufen wird. Alleine aber schon, dass wir uns diese Frage überhaupt ernsthaft stellen dürfen, ist ein Riesen-Erfolg und darf den Verein mit Stolz erfüllen. Im letzten Jahr fing der Abstieg an, als die Medien zunehmend Meisterfantasien sponnen. Schon die nächsten Wochen werden daher zeigen, ob Borussia aus dieser Erfahrung gelernt und mit den Neuzugängen auf dem Platz und in der Trainingsverantwortung so viel Mentalität hinzugewonnen hat, um es in dieser Saison besser zu lösen. Damit die Mannschaft noch möglichst lange den allzu schönen Traum von der inzwischen zumindest nicht mehr ganz so unmöglichen Meisterschaft am Leben halten kann.

Christian Spoo: Der Spoo in mir, ein grundpessimistisches Wesen, wie der regelmäßige Seitenwahl-Leser weiß, sagt: Nein. Niemals. Kein Gedanke. Augen zu, Ohren zu und laut "Lalalalala" singen angesichts der Spinnereien, die um mich herum - und auch von den Seitenwahl-Kollegen - da ernsthaft erwogen werden. Aber es ist schwer, sich von diesem Fieber nicht anstecken zu lassen. Nicht, weil man am Ende immer mit der Masse schwimmt, sondern weil Borussia im Moment so viel Spaß macht, wie lange nicht, vielleicht sogar wie noch nie, seit ich im Jahr 1979 mein erste Spiel am Bökelberg gesehen habe. Und wieder warnt die innere Stimme: Je himmelhochjauchzender, desto schlimmer am Ende betrübt. Ich erinnere: Das letzte Gerede von der Meisterschaft ist noch gar nicht lange her. Es war im Februar dieses Jahres. Borussia war mit drei Siegen in die Rückrunde gestartet und hatte sich am 19. Spieltag auf Platz zwei der Tabelle vorgeschoben, vor den späteren Meister FC Bayern. Und nicht wenige sagten Dinge wie "Nie wieder wird es einfacher, Meister zu werden, als in diesem Jahr" oder "Wann, wenn nicht jetzt" oder "Die Mannschaft ist so stabil, die bleibt zumindest bis zum Ende im Rennen". Also so wie heute, nur mit acht Spielen bzw 17 Punkten mehr auf dem Konto. Rein logisch betrachtet, hatten die Meisterschaftsträume seinerzeit unter Dieter Hecking mehr Substanz als jetzt nach elf Spieltagen unter Marco Rose.

Aber diesmal ist etwas anders. Es ist schwer zu greifen. Klar, das Spiel der Borussia ist attraktiver aber es ist auch so ein Gefühl. Das Gefühl "da geht was", das man bei vielen Spielen bis zur letzten Minute hat - siehe Rom, siehe auch Leipzig. Im Moment kann man sich einen echten Einbruch dieser Mannschaft fast nicht vorstellen, so deutlich haben Rose und Konsorten den Spielern das Schwiegersohnverhalten ausgetrieben. Wie haben die das gemacht? Geht das über den Kopf oder über den Bauch. Und wenn es über den Bauch geht: Wie nachhaltig ist das und kann sich das so schnell abnutzen, dass wir noch in dieser Saison plötzlich wieder Angsthasen und Schmalfüße im Borussiapark bestaunen müssen? Das sind die Fragen, an denen sich entscheiden wird, wie die Saison weiter und zu Ende geht. Sollte Borussia dauerhaft das Selbstverständnis an den Tag legen, mit dem sie im Moment durch die Liga pflügt, ist nichts auszuschließen. Dann wird man in der Tat oben dran bleiben. Ob es dann zum Titel oder "nur" zu einem Champions-League-Platz reicht, wird man sehen. Das hängt auch vom Faktor Glück und von der Performance der Konkurrenz ab. Aber möglich ist dann vieles. Erweist sich der Rose-Zauber als vergänglich, ist aber auch ein Absturz à la Frühjahr 2019 nicht ganz auszuschließen. Aber damit rechne ich, trotz meiner an und für sich pessimistischen Grundhaltung nicht. Ganz ohne Spinnerei werden Bayern oder Leipzig Meister, wir werden Dritter oder Vierter. Eine Ein-Prozent-Chance auf mehr räume ich ein.