Die neue Saison ist gerade einmal zwei Wochen alt, da stehen die Schiedsrichter schon wieder in der Kritik. Speziell Marco Fritz dafür, den Bayern in Gelsenkirchen zum Sieg verholfen zu haben. Und natürlich bekommt auch mal wieder der VAR sein Fett weg, weil es insbesondere bei vielen traditionsbewussten Fußballfans inzwischen zum guten Ton gehört, diesem kritisch gegenüberzustehen. Das Hauptproblem an diesem Wochenende, wie auch in weiten Teilen der vorigen Saison, hat aber nur sehr bedingt mit dem Videoassistenten zu tun, sondern mit der unsäglichen Handregel, die seit Jahren eines der größten Ärgernisse im Profifußball ist.

Bereits am 6. Oktober 2014 z. B. kommentierten wir auf Seitenwahl zum selben Thema: „Die neue Saison ist gerade erst zwei Monate alt, da holt Borussia die ewig junge Handspiel-Diskussion bereits zum vierten Male wieder ein.“ Schon damals forderten wir DFB und FIFA auf, „klar definierte Regelungen zu vereinbaren, die möglichst wenig Spielraum für willkürliche Entscheidungen bieten.“ Getan hat sich seitdem wenig Entscheidendes.

Der VAR und die Emotionen

Ganz im Gegenteil: Durch die Einführung des VAR wurde die Diskussion 2017 sogar noch angeheizt, da die Erwartungshaltung geschürt wurde, mit Hilfe der Videounterstützung könnten alle Fehler des Schiedsrichters eindeutig behoben werden. Dies kann der VAR ganz selbstverständlich nicht erfüllen, denn er ist kein „Beweis“, sondern lediglich eine oft sehr hilfreiche Entscheidungshilfe. Am ehesten gelingt es ihm bei Abseitsstellungen, aber selbst dort führen technische Beschränkungen zu einer gewissen Fehlertoleranz.

Schwieriger als bei solchen Schwarz-Weiß-Entscheidungen wird es immer dann, wenn sich die Situation in einem Grauzonenbereich befindet. Auf den ersten Blick scheint der VAR hier ungeeignet, weil er eben nicht immer eindeutige Lösungen präsentiert, die jeder als richtig erachtet. Das Kernproblem liegt hier aber eher an der emotionalen Außenwahrnehmung: Es gibt Millionen Hobbyschiedsrichter, die zu jeder Situation eine eindeutige und subjektiv stets richtige Meinung haben, die sie in Zeiten von Social Media ungefragt in die Welt hinausposaunen. Insbesondere natürlich dann, wenn sie sich ärgern. Eine alte Marketing-Regel besagt, dass Leute sich 7x häufiger beschweren als dass sie positive Rückmeldungen geben. Dieser Faktor dürfte im emotionalen Fußballsport noch einmal um einiges höher liegen.

Da sich im Zweifel immer die negativ betroffene Fangruppe besonders lautstark bemerkbar macht, kann der VAR in der öffentlichen Wahrnehmung nur verlieren, selbst wenn er objektiv richtig urteilt: So erklärt sich, warum inzwischen selbst korrekterweise behobene Fehlentscheidungen in den Medien als „Aufreger“ dargestellt werden und suggerieren, es gäbe ein Problem mit dem VAR. So erlebt zuletzt beim Spiel Hertha – Wolfsburg, wo gleich zu Beginn ein falscher Elfmeterpfiff aufgehoben wurde. Anstatt den VAR für diese Verbesserung zu loben, wurden primär die Reaktionen der Berliner eingefangen, die aus einer Mischung von kindlichem Trotz und emotionalem Whataboutism bestand. Positiv erwähnt sei Hertha-Trainer Ante Covic, der sich zur Leistung des Schiedsrichters nicht äußern wollte. Allerdings tat er auch gut daran, denn Guido Winkmann und sein Team hatten an diesem Abend einen sehr guten Job gemacht und das Instrument des VAR hervorragend angewandt.

Der VAR und die Fakten

Selbst wenn wir in einer Welt der „gefühlten Wahrheiten“ leben, in der Fakten allzu oft verleugnet werden: Sämtliche Statistiken, die zum Thema VAR in den letzten Jahren erhoben worden sind, belegen eindeutig, dass die Zahl der Fehler durch seine Einführung stark zurückgegangen ist. Und dies selbst im so genannten Grauzonenbereich. Denn auch hier gilt, dass die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Entscheidung deutlich höher ist, wenn dem Schiedsrichter die bestmöglichen Informationen vorliegen. Wird in Echtzeit entschieden, so wird man weit häufiger daneben liegen als wenn man sich eine Szene zusätzlich auf dem Bildschirm inkl. Zeitlupe und Standbildern anschaut.

Anstatt sich also zurück ins Mittelalter zu wünschen, sollte die Fußballfangemeinde lieber die spannenden Fragen angehen, wie sich der Umgang mit dem VAR optimieren lässt. Ein wesentlicher Punkt wäre, dem Schiedsrichterwesen wieder mit etwas mehr Respekt entgegenzutreten – bei aller berechtigter Kritik an ihren manchmal diskutablen Leistungen. Wenn mittlerweile jede noch so kleinste streitbare Entscheidung zu einem Riesen-Skandal hochgehypet wird, und jeder Schiedsrichter Angst haben muss, in den kommenden Tagen als nächste Sau durchs digitale Dorf getrieben zu werden, dann führt das nur zu weiterer Verunsicherung und zu schlechteren Leistungen. Da besonders Fehler bei Spielen der Großklubs wie Bayern, Dortmund oder Schalke in den Medien präsent sind, stehen die Schiedsrichter hier besonders stark unter Druck. Emotionen sind wichtig und gehören zum Fußball dazu. Die Schiedsrichter sind aber kein Freiwild, auf den der gesamte Frust des Bundesliga-Alltags abgeladen werden darf.

Der VAR und die Transparenz

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Transparenz. Der DFB ist zwar bemüht, die strittigsten Entscheidungen in den darauffolgenden Tagen zu erläutern und hat hier seit der Amtsübernahme von Dr. Drees als VAR-Verantwortlicher schon einige Fortschritte erzielt. Warum aber bietet man nicht standardmäßig eine Internet-Seite an, auf der jeweils wenige Stunden nach Schluss jedes Bundesliga-Spiels die strittigen Szenen hochoffiziell durch den DFB erklärt und eingeordnet werden? So würde man den Leuten transparent offenlegen, wieso welche Entscheidung getroffen wurde und wie dies im Nachhinein bewertet wird. Und man würde den interessierten Leuten eine Möglichkeit zur Verbesserung ihrer Regelkunde bieten. Hier liegt nämlich ein weiteres großes Problem, dass bei den Fans wie auch in den Medien extrem große Lücken beim Regelwissen bestehen.

Mehr Transparenz wäre ebenfalls im Stadion dringend vonnöten. Bei der letzten Weltmeisterschaft wurde es vorgemacht, wie man die Fans mitnimmt, indem die überprüften Entscheidungen direkt transparent auf der Videoleinwand abgebildet werden. In der Bundesliga sträuben sich die Klubs dagegen, weil sie die Herrschaft über die Stadionregie nicht hergeben möchten. An echter Transparenz zum Wohle ihrer eigenen Fans besteht also offensichtlich kein Interesse. Sofern der DFB das anders sieht, sollte er die Klubs aber dazu zwingen können. Genau wie seit einigen Jahren ein Jugendleistungszentrum Grundvoraussetzung für eine Bundesliga-Lizenz ist, sollte auch die Umsetzung des VAR auf den Stadionleinwänden verbindlich eingefordert werden.

Der VAR und die unsägliche Handregel

Der größte Knackpunkt besteht allerdings seit einiger Zeit in der unklaren Regel bei Handspiel und ihre oft uneinheitliche Auslegung, die schon lange vor Einführung des VAR nicht funktionierte. Um dem gerecht zu werden, hat sich die oberste Regelbehörde der FIFA, das IFAB, in diesem Sommer dazu durchgerungen, ein paar Klarstellungen vorzunehmen. Das bisherige Kriterium der „Absicht“ wurde weitgehend ersetzt durch verschiedene Kriterien, die aus Sicht des IFAB leichter zu erkennen seien. So gilt seit dieser Saison jede Hand-/Armberührung, die zu einem Tor oder Torvorbereitung führt, als strafbar. Jahrelang wurde in solchen Situationen von den betroffenen Fans gejammert, wenn z. B. Christoph Kramer in Dortmund völlig regelkonform ein Tor erzielte, obwohl ihm zuvor der Ball an die Hand gesprungen war. Solche Tore wird es in Zukunft nicht mehr geben, was am letzten Wochenende bei Werder Bremen oder vorige Woche in Manchester für neuerlichen Unmut sorgte. Wer den Sumpf trockenlegen möchte, darf aber eben auch nicht die emotional beteiligten Frösche fragen. Hier haben die Regelhüter endlich einmal das umgesetzt, was sie möglichst überall vollziehen sollten: Eine klare Regelung, die für jeden Beteiligten gleichermaßen gilt und einheitlich-eindeutig bewertet werden kann.

Keine wirkliche Besserung in Sicht

Für die Handspiele in der Defensive ist ihnen dies leider nicht gelungen, denn hier wurde die bisherige Willkür einer neuen geopfert. Indem verschiedene schwammige Kriterien, wie z. B. die Vergrößerung der Körperfläche oder die Nähe des Arms zum Körper, definiert wurden, die sich in einzelnen Szenen widersprechen können, wurden Szenen wie am Samstag in Gelsenkirchen geradezu heraufbeschworen.

Es ist leider eine typische Juristenkrankheit, die sich in vielen Gesetzen widerspiegelt: Bestehen unterschiedliche Ansichten zu einem Sachverhalt, dann wird ein Kompromiss gesucht und der Gesetzestext so schwammig wie nötig formuliert, damit ihn alle Parteien in ihrem Sinne interpretieren und gesichtswahrend dem Ergebnis zustimmen können. Ausbaden müssen es später die Anwender des uneindeutigen Gesetzestextes, was im vorliegenden Fall die Schiedsrichter sind.

Einzig sinnvoll wäre es, auch hier klare Kriterien zu definieren, die den Grauzonenbereich so gut wie möglich eindämmen. Dies wird beim Handspiel niemals zu 100% möglich sein, aber es gäbe viele Möglichkeiten, sich deutlich in diese Richtung zu bewegen.

Vorschläge zur Besserung

Schiedsrichter-Experte Alex Feuerherdt von Collinas Erben z. B. machte einen interessanten Vorschlag, der z. B. vorsähe, Handspiel in den allermeisten Fällen als strafwürdig anzusehen, aber i.d.R. dann nur mit einem indirekten Freistoß zu ahnden. Lediglich drei Ausnahmen hiervon würden definiert. Bei der Verhinderung einer offensichtlichen Torchance, z. B. absichtliches Handspiel auf der Linie, bleibt es beim Elfmeter und Platzverweis. Wäre daraus eindeutig ein Tor entstanden, könnte es aus Sicht von Feuerherdt sogar ein „technisches Tor“ geben. Sofern der Abwehrspieler klar erkennbar vom Angreifer angeschossen wurde, wäre ein Handspiel zu guter letzt gar nicht strafbar.

Dieser Vorschlag würde eine Menge der bestehenden Probleme lösen, erscheint den Herren von IFAB, FIFA und DFB vermutlich aber zu revolutionär. Alternativ wäre es auch möglich, auf Basis der neuen Regelungen zu präziseren Kriterien zu gelangen, die sich spätestens durch Unterstützung des VAR auflösen ließen.

Wenn z. B. davon gesprochen wird, dass bei „nahe am Körper“ liegenden Armen bzw. Händen keine Strafbarkeit vorliegen soll, dann bleibt dies weiter Auslegungssache. In Gelsenkirchen z. B. beharrte Schiedsrichter Fritz bei bester Sicht auf das Geschehen, dass die Arme von Perisic „nahe am Körper“ gewesen seien. Alles ist nun einmal relativ in unserer Welt. Dieses Problem ließe sich einfach lösen, indem der strafbare Bereich exakt festgelegt würde, also z. B. „Wenn die Arme auf einer waagrechten Linie des Punktes der Ballberührung maximal bis zu 10cm vom Körper entfernt liegen, ist ein Handspiel generell nicht strafbar.“ Dies könnte der VAR mit Computerunterstützung leicht aufklären und wäre somit geeignet als Hauptkriterium bei Schüssen, die aus der Distanz abgegeben werden, wobei natürlich auch hier festzulegen wäre, ab wie vielen Metern dies gegeben ist.

Bei Schüssen aus naher Distanz, die also z. B. aus maximal 5 Metern an Arm oder Hand prallen, könnte das neue Kriterium der Position der Arme als Entscheidungsparameter herangezogen werden. Hier wurde bereits festgelegt, dass es generell als nicht strafbar gelten soll, wenn sich die Arme bei Ballberührung unterhalb der Schulterhöhe befinden. So wie es am Samstagabend z. B. beim Münchener Pavard der Fall war.

Zu den beiden genannten Kriterien könnten evtl. noch die beiden Ausnahmefälle einer eindeutig aktiven Armbewegung zum Ball (strafbar) bzw. einer Berührung beim Anfangen eines Sturzes (nicht strafbar) definiert werden.

Das Kriterium der „vergrößerten Trefferfläche“ ist aber aus meiner Sicht vollständig ungeeignet, da offensichtlich niemand weiß und versteht, wann genau dies erfüllt ist. Im Grunde vergrößert jeder ausgefahrene Arm die Trefferfläche. Es ist bezeichnend, dass sich der Vorsitzende der Schiedsrichterkommission Lutz-Michael Fröhlich selbst im Nachhinein nicht mit Bestimmtheit festlegen wollte, ob die beiden Elfmeter-Nicht-Entscheidungen auf Schalke korrekt waren. In beiden Fällen sei ein Field Review sinnvoll gewesen, und in der Tendenz wurde das nicht gepfiffene Handspiel von Perisic „kritisch“ gesehen, während die Entscheidung bei Pavard als nachvollziehbarer erachtet wurde.

Ein Plädoyer für die Klarheit

Was der Fußball bräuchte, wären klare, präzise Regeln, die sich allerspätestens im Nachhinein eindeutig bestimmen lassen. Genau dann nämlich kann der VAR seine Stärken ausspielen. Dafür müssten aber – wie oben dargestellt – wenige klar definierte Kriterien festgelegt werden, die sich nicht ausschließen. Selbst wenn dies zumindest zu Beginn in einigen Situationen gefühlt ungerecht wirken könnte. Letztlich wird sich nie zu 100 % klären lassen, wann so etwas wie „Absicht“ oder eine „natürliche Armbewegung“ vorliegt. Worauf es aber primär ankommt, ist eine möglichst hohe Verlässlichkeit und wenig Spielraum für Willkür und subjektive Auslegungen.

Insgesamt ist es aber dringend geboten, die Handregel ernsthaft zu reformieren und nicht so halbherzig, wie in diesem Sommer durch das IFAB. Da dieser Wunsch aber schon in den letzten Jahren ungehört blieb, wird die Fußballwelt mit diesen Diskussionen vorläufig weiterleben müssen – demnächst auch sicher mal wieder im Borussia-Park.