Es ist ein schöner und sonniger Samstag Nachmittag in Mönchengladbach. Im Stadion im Borussia Park schlägt die Borussia Bayer Leverkusen verdient und ist fast sicher für die Champions League qualifiziert. Der zutiefst verehrte Trainer Lucien Favre entzieht sich wieder einmal dem Jubel im Stadion und hält noch nichts für erreicht, aber hier am Niederrhein liebt man ihn nicht nur für den Erfolg sondern auch für seine hartnäckige Kauzigkeit. Endlich ist alles gut.

Nicht nur Anhänger von Borussia Mönchengladbach sondern überhaupt jeder Fußballinteressierte in Deutschland weiß, wie die Geschichte in der folgenden Saison weiter geht. In einem krachenden Absturz taumeln die Borussen ans Tabellenende, ihre Spielweise mutiert von verunsichert zu katastrophal, Favre kündigt sich selber, Schubert kommt und bleibt. Die zurückliegende Saison 2015/16 brachte eine so reiche Palette an Emotionen, an Verwirrung, Freude, Entsetzen und Jubel, dass das Geschehen von vor einem Jahr schon aus dem Blickfeld gerückt ist. Dabei war diese Zeit zu ungewöhnlich, als dass man sie vergessen sollte. Vor allem aus dieser Ausgangsposition des Vereins heraus.

 Im Sommer 2015 ist Borussia Mönchengladbach eine gefragte Anlaufstelle für alle Vereine, die sich verbessern wollen. "Kontinuität" ist ein vielgebrauchtes Wort; der nachhaltige Aufbau des Teams über Jahre hinweg in kleinen Schritten, die stückweise Verbesserung des Spiels bis zum Aufbau einer regelrechten Spitzenmannschaft, das will jeder von Eberl und Favre lernen. Die legitimen Nachfolger von Werder Bremen als Vorbild der Bundesliga, als Beispiel dafür, dass man mit solider, beharrlicher Arbeit in den Kreis der Hochfinanzclubs eindringen kann, dafür steht die Borussia aus Mönchengladbach.

Das ist die Mannschaft, die als erste Bayern zuhause besiegt hat, die den starken Tabellenzweiten aus Wolfsburg geschlagen hat, die die wiederauferstandenen Dortmunder traumhaft ausgekontert hat und die die hochfliegenden Leverkusener aus ihrer Siegessertie gerissen hat. Zehn Gegentore in der Rückrunde sind neuer Rekord in der Liga und ohne den Ausrutscher gegen Augsburg am Ende wären es sieben gewesen. Die Mannschaft verkraftet auch den Ausfall von Kapitän Stranzl, sie läuft und arbeitet wie eine geölte Maschine. Nach viereinhalb Jahren ständiger Entwicklung ist das Team von Lucien Favre zu voller Reife gelangt. Nun zum ersten Mal die Teilnahme an der Champions League, die Zukunft steht der Mannschaft offen.

Lucien Favre ist in dieser Zeit ein begehrter Interviewpartner. Nicht mal seine Zurückhaltung, seine ständige Vorsicht, sein absoluter Widerwille gegenüber provokanten Äußerungen hindern die Journalisten daran, sein Erfolgsgeheimnis aus ihm herausinterviewen zu wollen. Über Ansätze hinaus schafft es keiner. Aber das Selbstvertrauen der Gladbacher mit ihrem Wundertrainer und das bundesweite Ansehen des Vereins, der es Schritt für Schritt in die Spitze geschafft hat, sind fast grenzenlos. Als zu Beginn der nächsten  Saison die Wettquoten darüber veröffentlicht werden, welcher Bundesligatrainer als erstes fliegt, liegt Favre gleichauf mit Guardiola und mit einer Quote von 1:160 ganz am Ende.

Was dann kam, hat keiner kommen gesehen. Der Absturz kam so urplötzlich, dass er mit nichts in der Bundesligageschichte der Borussia zu vergleichen ist. Für ein Mal erlebt man eine Katastrophe, bei der kein einziger Besserwisser im Nachhinein sagt "Habe ich doch vorher gesagt". Die Reihe der Niederlagen in der Saison 2015/16 kommt wie eine Serie von Schlägen, von denen der erste, die hohe Niederlage in Dortmund, das Team schon viel stärker erschüttert, als es irgendwie hätte sein dürfen. Die folgenden Niederlagen bringen die Mannschaft an den Rand des k.o., besonders das schlimme 0:3 gegen Hamburg, das selber kaum nennenswerten Fußball spielt, und natürlich die Niederlage in Köln. In wenigen Wochen ist aus dem Anwärter für einen Champions League Platz ein glatter Abstiegskandidat geworden.

Nun, ein Jahr später und nach vielem Aufatmen, wäre es schön, wenn man sagen könnte, was warum geschehen ist, wenn man den Finger in die Wunde legen könnte und Ursachen benennen könnte, auf dass man so einen Albtraum nie wieder erleben muss. Allein, das ist kaum möglich. Außerhalb des Vereins findet man keinen, der eine schlüssige Erklärung für den Crash findet, der die Borussia ihren Erfolgstrainer und beinahe ihre Zukunft kostet. Auch ein Christoph Biermann, als distanzierter Analytiker nicht schnell mit jedem Trend unterwegs, veröffentlicht am 31.08.2015 noch einen Artikel in 11Freunde mit dem Schlusssatz "Favre wird das hinbekommen".

Drei Wochen später tritt Lucien Favre zurück. In einem noch nicht da gewesenen Szenario hängt der Verein am Trainer, nimmt seine Kündigungen nicht zur Kenntnis, vertraut immer auf einen neuen Morgen bis der Trainer Ernst macht und die Öffentlichkeit über seinen Rücktritt informiert. Wohl noch nie hat ein Verein und das ganze Umfeld in einer Niederlagenserie so sehr hinter einem Trainer gestanden und noch nie musste ein Trainer sich so anstrengen, um seinem Verein zu kündigen. Immerhin einen Kern von Favres Wesen hatte Biermann erahnt, als er ihn in einem anderen Artikel einige Monate zuvor als "Dramaqueen" bezeichnet hatte.

Die folgende, ebenso atemberaubende Siegesserie unter Schubert eröffnete den Blick wieder auf die Stärken der Mannschaft. Damit ist die Frage nach dem Absturz aber noch nicht beantwortet. Versuchen wir uns einmal daran.

Im Sommer 2015 mussten die Borussen zwei Abgänge kompensieren, die von Max Kruse und von Christoph Kramer. Beide hätte man sicher gerne gehalten, aber keiner sah auch so unersetzlich aus wie z.B. Raffael. Mit Stindl stand auch erneut ein "typischer Eberl-Transfer" bereit, ein Klassespieler weit unter Marktwert, um die Mannschaft zu verstärken. Und insgesamt wirkte das Team so stabil und so eingespielt, dass es Neuzugänge schon assimilieren und zum Besten aller verstärken würde, so wie in den Jahren zuvor.  Doch das erste, was ins Auge fiel, war die völlig ungewohnte und haarsträubende defensive Unstabilität. So hatte man die Borussen in Favres Ära noch nicht erlebt, ein Rückfall in Frontzecks Blinde-Kuh-Fußball.

Das Pokalspiel bei Sankt Pauli, das nach Rückstand noch umgebogen werden konnte, gab einen ersten Hinweis auf die Probleme. Ohne Kompaktheit, mit zuviel Distanz zum ballführenden Spieler und immer einen Schritt zu spät, ließen die Borussen sich vom Zweitligisten gehörig durchwirbeln, bis die individuelle Klasse sich durchsetzte. Beim Spiel in Dortmund gab es dann die Strafe dafür, die nach Torchancen sogar noch zahm ausfiel.

Eventuell hatte auch der Spielplan da seinen Einfluss. So wie vier Jahre zuvor der 0:1 Sieg in München eine Supersaison der Borussia einläutete, so hallte das 4:0 in Dortmund nach wie eine Ohrfeige. Auf einmal fiel das Fehlen von Stranzl wieder gewaltig ins Gewicht, die Verletzung von Dominguez ebenfalls und mit Drmic für Kruse und Stindl für Kramer fehlte jede Abstimmung. Und zwar nicht nur für ein Spiel, was es auch unter Favre schon gelegentlich gegeben hatte, sondern auch für das nächste Spiel. Und das darauf. Und so weiter.

In dieser Zeit muss es passiert sein, unbemerkt von Christoph Biermann und von allen anderen Fußballweisen, dass Favre der zündende Funke verloren ging. Die Abgänge von Reus, Dante und Neustädter hatten ihm seinerzeit schon so zugesetzt, dass die weitere Zusammenarbeit fraglich schien, aber am Ende tüftelte er sein Team wieder hin. Diesmal aber versagten alle Zauber und an irgendeiner Stelle muss im fußballbesessenen und potentiell labilen Schweizer ein Zweifel eingesetzt haben, der nicht mehr stillzukriegen war. Gut möglich, dass das Spiel gegen Hamburg viel damit zu tun hatte, als die Borussen gegen den Abstiegskandidaten so sehr ins Straucheln kamen, dass sie den gleichfalls schlecht spielenden Norddeutschen die Tore regelrecht vorlegten und dann teilnahmslos zusahen. Erinnerungen an 1999 flackerten kurz hoch.

Auch wenn Favre sich weiterhin kämpferisch und entschlossen gab, in ihm dürfte in dieser Zeit der Zweifel überhand genommen haben.  Die Niederlage in Köln, nach der er so lange zurücktrat, bis es nicht mehr zu verhindern war, war längst nicht so ein Desaster wie gegen den HSV, Besserung zeichnete sich auch durch den erstmaligen Einsatz von Xhaka und Dahoud ab. Trotzdem kündigte Favre am Sonntag darauf seinen Vertrag. Anscheinend hatte der Trainer sich dieses Spiel als Schwelle gesetzt und führte dann seinen Entschluss durch.

War es nötig? Unvermeidbar? War es richtig? Plötzlich kamen die Bilder wieder hoch von sechs Jahre zuvor, als Favre nach seiner Kündigung in Berlin eine eigene Pressekonferenz einberief, in der er so zusammenhanglos und erschöpft wirkte, dass man ihm zuvorderst einen guten Arzt und eine gute Besserung wünschte. Dies sollte alles Geschichte sein, mit Arbeit an sich selbst, besseren Sprachkenntnissen und mehr Reifung als Trainer und Mensch. Und doch wurde Favre in der ganzen, erfolgreichen Zeit bei Borussia immer wieder als schwierig beschrieben, mit Phasen, in denen er sich hängen ließ, wenn zum Beispiel der Transfermarkt keine preiswerten, jungen Wunderspieler hergab. Es wurde immer von Max Eberl durchmoderiert, wahrscheinlich mit einiger Hilfe der ehemaligen Trainer Bonhof und Meyer, bis es wieder weiter ging. Der Erfolg half dabei. Aber im Herbst 2015 ging das nicht mehr. Wahrscheinlich waren viereinhalb Jahre einfach genug.

Der folgende Saisonverlauf bildet sein völlig eigenes Drama. Nach einer großartigen Serie von Siegen folgte eine Achterbahn ohne Ende. Insgesamt zeigen die Borussen ein offensives Potential, vor dem sich jede Mannschaft in Acht nehmen muss, besonders nachdem Stindl in den Sturm versetzt wird und Andre Hahn von seiner schweren Verletzung zurückkehrt. Ob der herausragende Trainer Lucien Favre, für den die Defensive immer die Basis des Spiels ist, das auch aus dem Team herausgeholt hätte, oder ob der risikofreudige Andre Schubert der richtige Mann in dieser Zeit war, wird für immer zur Diskussion frei bleiben.

Fast auf den Tag ein Jahr später gibt es im Frühling 2016 gibt es wieder einen warmen, sonnigen Samstag Nachmittag in Mönchengladbach. Bayer Leverkusen ist zu Gast, um den Borussen noch einmal die Champions League zu verwehren. Die Gäste gehen auch in Führung, aber Andre Hahn dreht kraftvoll die Partie und durch den eigenen  Torjubel hören die Fans im Stadion von der Berliner Niederlage und vom Ausgleich gegen Schalke in letzter Minute. In einer bezaubernden Wendung legt der Spieltag der Borussia die Champions League Qualifikation zu Füßen. Auf der Trainerbank sitzt Andre Schubert, der nach dem Schlusspfiff nicht wie sein Vorgänger ein Jahr zuvor in die Kabine flüchtet, sondern ausgelassen über den Rasen tanzt. Und alles ist gut.