Das Motto der EM 1996 in England lautete "Football is coming home!", und von der Wahrheit dieses Sinnspruchs konnte sich während des Turniers jeder Beobachter überzeugen. Zehn Jahre später – bei der WM 2006 in Deutschland – wird sich der Fußball wundern, wo er denn so alles hingeschickt wird. Zu Hause wird er sich jedenfalls an etlichen Austragungsplätzen nicht fühlen, denn zu viele Städte sind gestern als Spielorte festgelegt worden, in denen der Fußball keine Heimat hat. Überraschend ist das nicht, denn wie wir spätestens seit dem vergangenen Montag wissen, ist der Fußball an sich bei der Austragung einer Fußball-Weltmeisterschaft kein Kriterium.

Wir verdanken diese klare Einsicht dem DFB-Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder, der gestern in einem WDR-Fernsehinterview in dankenswerter Offenheit sein Innerstes nach außen kehrte. Sicherlich, so "MV", würden Mönchengladbach und Bremen die Anforderungen der FIFA erfüllen, und sicherlich hätten beide dort ansässigen Vereine sehr viel für den Fußball in Deutschland getan. Doch das, so der Ex-Politiker weiter, sei eben kein der Wahl der Austragungsorte zugrunde liegendes Kriterium; ausschlagebend seien vielmehr "regionale Aspekte" und "objektive Kriterien". Über die regionale Dimension ist schon viel gesagt worden, daher soll dies hier unterbleiben. Es reicht festzustellen, daß dieser Aspekt offenbar breit genug ausgelegt werden kann, um zwei benachbarte Großarenen in Westfalen sowie eine dritte, sehr nahe gelegene Stadt im Rheinland auszuwählen. Honi soit qui mal y pense ...

Interessanter sind die "objektiven Kriterien", zu denen eben der Fußball nach DFB-Aussage nicht gehört. Wir hatten es eigentlich noch nie anders vermutet. Gerne würden wir aber lernen, was diese "objektiven" Dinge nun eigentlich sind. Hier konnte gestern sehen und hören, wer Augen und Ohren im Kopfe hat. Natürlich wurde nicht über die Dinge geredet, die auch ihre Rolle gespielt haben werden, über die man aber feinsinnig schweigt. Geben wir uns also mit den "billigen" Substituten zufrieden – das Bild ist deutlich genug.

Punkt eins sind die alten Spezis. MV und Beckenbauer können sich zwar nicht ausstehen und versuchen dies nicht einmal zu verbergen, wenn es aber um gemeinsame (im wesentlichen süddeutsche) Interessen geht, sind sie ein Herz und eine Seele. Über München und Stuttgart als Austragungsorte muß man daher kein Wort verlieren. Zudem ein Winke-Winke an Fritz Walter, und auch der Betze wird 2006 beben. Nicht zu vergessen ein Dankeschön an den Fußballfan Schröder, der - wenn ihm die Publicity auszugehen droht und er gerade wegen seines arg nach Echthaartransplantation aussehenden Kopfrasens niemanden verklagen kann - mit Energie-Schal auf der Kotzbus-Tribüne auftaucht. Daß der DFB sich mit Frankfurt und Leipzig schließlich noch doppelt beschenkt, ist ohnehin mehr als angebracht. Man muß das mal so sehen: Das ist doch nur ein Sechstel aller WM-Stadien ... Das prozedurale Sahnehäubchen ist dann nur noch, auch noch den größten Problemfall unter den Fußballpromis angemessen einzubinden: Zwölfmal Knöpfchen drücken für den Bomber der Nation, dazu reicht es noch immer.

Man wollte bei der FIFA einen dreizehnten Spielort durchdrücken

Punkt zwei sind die VIPs, die nach Vorstellung der Organisatoren zweifellos den Hauptanteil der Stadionbesucher (schönes Wort ...) ausmachen werden. Eine WM kann natürlich nur dort stattfinden, wo es verkehrsanbindungs-, spitzengastronomie- und operntechnisch eine gewisse Grundausstattung gibt, die es ermöglicht, sich nicht den ganzen Abend mit Sport beschäftigen zu müssen. Deshalb wollte man ja auch bei der FIFA noch einen dreizehnten Spielort durchdrücken, der dann Düsseldorf gewesen wäre – war das Hauptargument des dortigen Oberbürgermeisters doch tatsächlich gestern, daß die VIPs im neuen Stadion dank des Parkplatzes unter dem Spielfeld immer trockenen Fußes zu ihren Logen gelangen können. Zweifellos ist das ein "objektives" Kriterium. Und die schöne neue Welt geht gar noch weiter: Ein DFB-Funktionär erging sich in seinen Tagträumen über die übernächste Stadiengeneration darin, uns vorzuschwärmen, daß man 2006 seine Wurst per Chipkarte wird kaufen können (wie alles andere übrigens auch). Lieber hätte der gute Mann wohl "Kaviar" statt "Wurst" gesagt. Wir wollen es ihm nicht verdenken, schließlich kaufen wir uns in Mönchengladbach auch keine Wurst mehr, weder mit Chipkarte noch ohne. Geschmack ist halt so eine Sache.

Punkt drei schließlich ist die Wirtschaft. Getreu dem Schröderschen Politikmotto "Gefördert werden muß, was schon groß ist und im freien Wettbewerb untergehen könnte." ist die WM 2006 eher als ein Konjunkturprogramm angelegt denn als Sportgroßereignis. Darüber wollen wir uns nun wirklich nicht beschweren, denn in Zeiten von konstant rund vier Millionen Arbeitslosen sind einige Tausende Teilzeitputzkräfte, sorry "Stadionpfleger", sowie eine Aufstockung der Polizei, sorry "Sozialhygiene-Spezialkräfte" zweifellos ein ernstzunehmender Tropfen auf den heißen Stein. Und daß sich Konzerne wie Volkwagen, an denen das Land Niedersachsen übrigens eine Beteiligung von 19 % hält, oder Bayer in der Bundesliga breit machen, sind wir eh gewohnt. Auch die Telekom kommt ja nun bei Bayern unter, da ist eine perfekte Bildübertragungsqualität aus dem Pressezentrum München (bekanntlich dem vituellgeopgraphischen Mittelpunkt Deutschlands) garantiert. Nur Kirch macht noch Sorgen, aber da könnte ja die WAZ-Verlagsgruppe einspringen, in der wer doch gleich, ach ja Kanzler-Spezi Hombach, inzwischen die Fäden zieht.

Wer bis hierhin noch nicht kotzen mußte, der hat heute noch nichts gegessen. Man kann eigentlich unter Anbetracht aller dieser "objektiver" Kriterien nur zu dem Schluß kommen, daß es eine Ehre für Mönchengladbach ist, nicht zum WM-Spielort ernannt worden zu sein. Offenbar haben wir "nur" Fußball anzubieten, sind aber zu wenig mit dem eigentlichen Schmierstoff im Getriebe der WM 2006, um hier bildlich zu sprechen, ausgestattet – nämlich mit politischen und wirtschaftlichen Einflußkanälen. Es bringt an dieser Stelle auch nichts, darüber zu lamentieren, daß man das Stadion etwas früher hätte bauen können oder daß der ein oder andere Ex-Borusse sich deutlicher für Mönchengladbach hätte einsetzen können. Das stimmt zwar alles, doch ist kaum zu glauben, daß derartige – im wesentlichen wieder sportliche Faktoren – etwas am gestrigen Ergebnis geändert hätten.

Dieser "Fußball" ist nicht mein Fußball

Das eigentlich Wichtige ist aber etwas ganz anderes: Dieser "Fußball", der den Vorstellungen der WM-Macher entspricht und der hier skizziert wurde, ist nicht mein Fußball. Ich will ihn schlicht und ergreifend nicht, denn er hat mit Sport nichts mehr zu tun. Ich will kein gläserner Konsument sein, dessen Schritte man lückenlos überwacht, bevor er seinen namentlich gekennzeichneten Sitzplatz aufsucht und mit einem dort vorfindbaren weißen Plakat am überdimensionalen Schriftzug "Deutschland und DFB – ein starkes Team, gepowert von eon" teilhaben darf. Ich will auch nicht dem vom Kulturstaatsminister organisierten Vorprogramm mit aus Funk und Fernsehen bekannten Stars beiwohnen und einen auf Multi-Kulti machen (natürlich nur, solange die Kameras eingeschaltet sind), während gleichzeitig unsere Freunde und Helfer draußen ihre meterlangen Listen mit Abertausenden von gemeingefährlichen Hooligans abarbeiten und wegschließen, wer keine Krawatte trägt. Nein, diesen "Fußball" kann der DFB behalten.

Wer denkt, das sei alles übertrieben und im übrigen schlechter Stil nach einer Niederlage, der irrt. Zum ersten Punkt sei gesagt, daß in Belgien, wo ich seit letztem Jahr lebe, die Zeit schon etwas fortgeschrittener ist. Regionales und "objektives" Gemauschel bei der Stadionvergabe hatten wir bei der Euro 2000, als Charleroi trotz krasser Nichteignung und sicherheitstechnisch unzulässigem Stadion Austragungsort werden mußte. Namentliche Registrierung bei Stadionbesuch, Abgabe von nur einem Ticket pro Person (und nicht mal das am Spieltag selbst), Listen mit tatsächlich tausenden von Namen angeblicher Krimineller sind längst Realität. Nur: Der Fußball in Belgien ist tot. Die Spitzenspiele finden vor Minikulissen stat, die weit unter früheren Durchschnitten liegen, und die Wirtschaft hat sich ob dieser Negativentwiclung auch in großen Teilen zurückgezogen. Dafür gibt es bei Ortsderbys in der achten (!) Liga oftmals mehr Fans als in der zweiten Profiliga. Das ist dann halt das Resultat solcher Funktionärswillkür ... Und was den zweiten Punkt betrifft, so kann ich als Nicht-Mönchengladbacher niemandem einem Ratschlag geben, wie er oder sie fühlen soll. Ich hätte mich für die Stadt gefreut, wenn sie Austragungsort geworden wäre, und ich würde mich für sie auch freuen, wenn dort Länderspiele stattfinden. Das muß aber jeder für sich wissen. Im übrigen werde ich die Nationalelf weiter unterstützen, weil für mich der Fußball an sich zählt, und der ist unabhängig von all den Motten, die außerhalb des Spielfeldes um das Flutlicht kreisen.

Kurzum: Der Fußball bleibt ohnehin, wo er zu Hause ist, nämlich in den Stadien, wo er gelebt wird. Er bleibt in Mönchenglabach. Er bleibt auch in Bremen, er bleibt in England und Schottland, er bleibt an ein paar anderen Orten. Er geht dieses Jahr nach Japan und Südkorea und wird danach vier Jahre Erholung brauchen, bis ihn die Reiselust wieder packt. Dann fährt er in Deutschland umher und wird sich so seine Gedanken machen. Wie die ausfallen, liegt in den nächsten Jahren auch an der Mannschaft, am Verein und an uns. Sorgen wir dafür, daß der DFB beschämt ist und rote Ohren bekommt, wenn der Fußball und all die Gäste aus dem Ausland, die er mitbringt, ins Land kommen und fragen: "Warum ist denn dieser große Verein mit seinen historischen Erfolgen, seiner jetzigen Mannschaft und dem großartigen Stadion kein WM-Gastgeber?" Und dann soll der DFB keine einfache Ausrede haben. Fußball gibt es auch ohne DFB, aber irgendwann gibt es keinen DFB mehr ohne Fußball ...