Es hätte so einfach sein können. Bis vor einer Weile noch war die Stoßrichtung dieses Berichts im Geist des Vorberichterstatters klar. Der HSV als unverbesserlicher Chaos-Verein, der seit Jahren um den Abstieg bettelt. Der für Borussias Verantwortliche insofern ein Glücksfall ist, als er als abschreckendes Beispiel dient: Seht mal, kann man den ob der mauen Gladbacher Saison Vergrätzten sagen, wie gut es uns doch im Vergleich zum HSV geht. Hier die Gladbacher, die wie unbeugsame Gallier gegen den Tod von 50+1 kämpfen, dort die Hamburger, die sich seit Jahren den unberechenbaren Launen eines Mäzens ausliefern und doch nicht vom Fleck kommen. Hier personelle Kontinuität auch bei scharfem Gegenwind, dort Übungsleiter-Wechsel von der Frequenz italienischer Neuwahlen und eine Sportdirektoren-Suche, die langsam zur öffentlichen Demütigung für den Verein wird. Hier eine Erfolgsgeschichte entdeckter und entwickelter Talente, dort eine Serie teurer Fehleinkäufe. Hier vielleicht „nur“ Einstelligkeit, dort mit einiger Wahrscheinlichkeit zweite Liga. Hier gelebtes Understatement, dort ein Hang zum Größenwahn. Und dann verkompliziert der HSV das alles.

Denn was der HSV zwei Tage vor dem Spiel verkündete, will nicht so recht ins Klischee passen: Christian Titz wird die Mannschaft auch in der kommenden Saison betreuen, egal in welcher Liga. Die Entscheidung ist so überraschend wie klug. Sie ist überraschend, weil die Verantwortlichen sich seit Wochen um eine klare Entscheidung herumzudrücken schienen. Von internen Machtkämpfen war zu lesen und aus der Gerüchteküche dampften vorgebliche Insider-Infos, die Ablösung sei schon beschlossene Sache und der ehemalige Leverkusener Trainer Roger Schmidt werde demnächst als neuer Trainer vorgestellt. Das hätte zum HSV gepasst: Auf Augenhöhe mit den Champions League-Kandidaten, und zu denen muss man Bayer nach wie vor zählen, wähnt man sich ohnehin gern. So gesehen wäre Schmidt die glamourösere Variante im Vergleich zum bodenständigen Titz gewesen. Die Entscheidung ist klug, denn Titz‘ Leistung als Interimstrainer der Profis ist überaus beeindruckend und zwar in viererlei Hinsicht: Ergebnisse, Spielidee, Personalentwicklung, Stimmungswandel.

Ergebnisse: Als Titz vor fast zwei Monaten nach dem Hamburger 0:6 in München sein Amt antrat, lag der HSV sieben Punkte hinter dem Relegationsplatz, inzwischen sind es zwei. Von den sieben Spielen unter seiner Leitung gewann der HSV drei, genauso viele wie in den vierundzwanzig Partien zuvor. Hätten die Hamburger den Tietzschen Punkteschnitt über die gesamte Spielzeit geholt, stünden sie jetzt bei 47 Zählern – also exakt so viel wie die Borussia. Dann wäre die Partie am Samstag ein direktes Duell um die Restchance auf die Europa League-Qualifikation.

Spielidee: Titz galt schon als Trainer der Hamburger U23 als jemand, der für eine klare Spielidee steht und sie seiner Mannschaft in geduldiger Detailarbeit zu vermitteln versteht. Dass zwei Monate zu kurz sind, als dass die Profis seinen Ansatz nachhaltig verinnerlicht hätten, liegt auf der Hand. Wie deutlich zumindest phasen- oder halbzeitsweise ein Wandel in der Hamburger Spielanlage durchscheint, ist angesichts der knappen Zeit dennoch sehr bemerkenswert. Wenn Aaron Hunt nach dem (bei Lichte betrachtet doch recht glücklichen) Sieg gegen Freiburg von „Tiki-Taka“ schwärmte, war das zwar ein paar Nummern übertrieben. Etwas Wahrheit war aber dabei: Trotz höchster Abstiegsnot, trotz langer Niederlagenserie gelang es Titz, den Spielern so etwas wie neuen Mut zum Ballbesitz, zum gezielten, variantenreichen Aufbauspiel, phasenweise zur Spielfreude einzuflößen. Stabil ist das noch lange nicht, wie bei der entäuschenden Leistung in Frankfurt zu besichtigen. Aber der Samen ist erkennbar gesät.

Personalentwicklung: Matti Steinmann ist so ein Fall. Den Lehramtsstudenten beförderte Titz von der U23 zur Schlüsselfigur im defensiven Mittelfeld der Profis – und hielt auch nach Rückschlägen an ihm fest. Als der HSV in Hoffenheim relativ chancenlos unterlag, hatte das auch damit zu tun, dass bei Hamburger Ballbesitz Steinmann systematisch und oft mit mehreren Spielern attackiert wurde. Man habe ja gewusst, wie wichtig er für das Hamburger Aufbauspiel sei, gab Julian Nagelsmann hinterher zu Protokoll. Titz wechselte Steinmann schon vor der Pause aus und in der Lokalpresse wurde darob spekuliert, ob sein Stern schon jetzt zur Schnuppe verglüht sein könnte. In den drei folgenden Spielen, darunter zwei Siege gegen die direkten Konkurrenten aus Freiburg und Wolfsburg, aber stand Steinmann jeweils wieder in der Startelf. Anderen Spielern hauchte Titz neues Leben ein: Tatsuya Ito, nach fulminanten Start in die Saison ins Leistungsloch gefallen, wuchsen in einer Weise Flügel, die Mannschaftskameraden van Drongelen gar zu einem Messi-Vergleich greifen ließ (da ist er wieder, der gute alte HSV-Größenwahn). Selbst die Partie in Frankfurt (0:3) hätte unter Umständen eine andere Richtung eingeschlagen, hätte der Video-Assistent nicht Schiedsrichter Aytekin dazu bewegt, Itos vermeintlichen Führungstreffer wegen hauchzarter Abseitsstellung zu annullieren. Aaron Hunt und Lewis Holtby: noch zwei Beispiele für Spieler, die mit dinosaurierartiger Schwerfälligkeit dem Abstiegsmeteorit entgegendämmerten, bevor sie unter Titz sichtlich den Spaß am Spiel wieder entdeckten. Für seine Bemerkung, man spiele nun zum ersten Mal seit vier Jahren wieder Fußball, musste Holtby sich zwar harsche Kritik nicht zuletzt vom Trainer anhören. Zufällig ist die Einlassung aber nicht.

Stimmungswandel: Wer wie der Autor dieses Berichts in Hamburg arbeitet und täglich mit HSV-affinen Kollegen zu tun hat, konnte ihn hautnah miterleben, den Weg von Resignation und Zynismus hin zur neuen Lust am HSV. Dass man immer wieder eine trotzige Resthoffnung hört, es werde auch in dieser Saison irgendwie gutgehen und der Dino sei eben doch unabsteigbar – das ist nicht neu. Neu ist aber, dass der Gedanke an einen möglichen Abstieg nicht mehr den gleichen Schrecken zu verströmen scheint wie noch im März. Die Entwicklung des Teams scheint die Zuversicht zu nähren, dass dieser Weg es lohnt, weiter beschritten zu werden – und dass der Besuch im Volksparkstadion in der neuen Saison lohnen könnte, selbst wenn die Gegner dann Heidenheim und Bielefeld heißen sollten. Das öffentlichen Training am Donnerstag besuchten gut zweitausend Fans und überschütteten die Spieler mit „niemals zweite Liga“-Sprechchören und allerlei emotionalen Solidaritätsbekundungen.

Dennoch könnte die berühmte Hamburger Bundesliga-Uhr am Samstag zum vorerst letzten Mal ihren Dienst verrichten. Gut möglich, dass der Trainerwechsel zu spät kam. Vieles ist noch im Entwicklungsprozess, manches fragil, manches Stückwerk, manche Disbalance der Kaderplanung nicht so einfach auszubügeln. Wenn dann noch ein Bobby Wood, wie in Frankfurt, die Einladung zum Torerfolg tölpelhaft ausschläft, wenn die große Nachwuchshoffnung Fiete Arp Abi-gestresst und gesundheitlich angeschlagen nicht zur Verfügung steht, dann fehlen personelle Alternativen. Gegen Gladbach könnte zwar erstmals nach langer Verletzung Nicolai Müller zurückkehren, dafür konnten Ito und Hunt nur eingeschränkt trainieren. Zudem ist der HSV abhängig davon, dass die Kölner in Wolfsburg gewinnen: Vom Tabellenletzten hört man zwar die üblichen Sprüche, man werde sich voll reinhängen, aber, nun ja, was sollen sie auch sonst sagen? Genau drei Kölner Siege stehen in der Rückrunde zu Buche. Zwei davon gegen die beiden Mannschaften, die sich am letzten Spieltag im Volksparkstadion gegenüberstehen.

Die Borussen kehren am Samstag an einen Ort zurück, an dem sie vor sieben Jahren am letzten Spieltag erreichten, wovon die Hamburger heute träumen: nach sensationeller Aufholjagd und zwischenzeitlichem Wechselbad der Gefühle den Sprung auf den Relegationsplatz. Bekanntlich folgten die Rettung gegen den Zweitligisten und eine Folgesaison mit begeisternden Spielen und dem Einzug in die Champions League. Tempi passati, der Alltag ist grau. Lange wurde die lange Verletztenliste zur Begründung angeführt.  Inzwischen aber hat sich die Personalsituation so sehr entspannt, dass mit einem Mal der Begriff „Luxusproblem“ auftaucht: Jantschke, Strobl und Cuisance trotz ansprechender Leistungen zurück auf die Bank, weil Vestergaard, Kramer und Zakaria zurückkehren? Führen luxuriöse Bedingungen zu luxuriöser Spielweise?

Am letzten Spieltag mag es rechnerisch um die letzte Chance aufs internationale Geschäft gehen. Noch mehr aber geht es darum, die Saison einigermaßen versöhnlich zu Ende zu bringen. Die ganze große Aufbruchsstimmung mag selbst bei einem überzeugenden Sieg nicht mehr ausbrechen. Umgekehrt droht auch bei einer Niederlage kein ganz tiefer Einschnitt. Beides unterscheidet die Borussia von den Gastgebern.

 

Aufstellungen:

Hamburger SV: Pollersbeck – Sakai, Papadopoulos, Jung, Santos – Steinmann, Ekdal – Hunt, Holtby, Ito – Wood.

Borussia Mönchengladbach: Sommer – Elvedi, Ginter, Vestergaard, Wendt – Kramer, Zakaria – Hofmann, Hazard – Raffael, Drmic.

 

Schiedsrichter: Dr. Felix Brych.

Assistenten: Stefan Lupp, Marco Achmüller.

Vierter Offizieller: Tobias Welz.

Video-Assistenten: Felix Zwayer, Florian Heft.

 

SEITENWAHL-Meinung:

Thomas Häcki: Ein Ritt auf der Rasierklinge. Für beide Protagonisten zählt nur ein Sieg. Da der Borussia nach dem hanseatischen 1:0 jegliche Spielidee fehlt, fährt man mit 0:2 nach Hause. Die Kritiker wird das nicht besänftigen. Mannschaft und Trainer haben viel Kredit verspielt.

Michael Heinen: Der HSV hat mehr zu verlieren als Borussia und geht daher motivierter in die Partie. Das reicht für einen umkämpften 2:1-Heimsieg, der in Mönchengladbach auch die letzten Chancen vernichtet, die durchwachsene Saison schönzureden.

Christian Spoo: Stop all the clocks! Borussia reißt sich zusammen und gewinnt in Hamburg mit 2:1. Damit nimmt die Saison ein versöhnliches Ende, das Max Eberl und Dieter Hecking fortan als Argumentationsstütze für ihr "es war nicht alles schlecht" nutzen können. Auch egal, der Entschluss zum "Weiter so" war ohnehin schon vor Wochen gefallen. 

Claus-Dieter Mayer: Mit einem schmeichelhaften 1:1 beim HSV verabschiedet sich die Borussia von der Saison 2017/18 und kann damit genau wie der Gegner die Ergebnisse auf den anderen Plätzen geflissentlich ignorieren.