Wer einmal in den Genuss gekommen ist, einen 65 Zoll-Fernseher in Full oder Ultra HD zu genießen, der wird sich relativ schnell an diesen Standard gewöhnen, selbst wenn er zuvor 30 Jahre lang mit einem Röhrenfernseher gut ausgekommen war. Ein Zurück zu diesem alten Qualitätsniveau wird ihm bald kaum noch möglich erscheinen. Ähnlich ergeht es derzeit den Fans von Borussia Mönchengladbach, die sich in den Jahren 2011 bis 2016 an einem Standard ergötzt haben wie ihn nur die allerältesten Fans des Vereins jemals zuvor genießen durften. Umso besorgter sind sie, angesichts der schleichend schlechter werdenden Leistungen ihrer Mannschaft in den letzten Jahren zukünftig wieder dauerhaft in die Röhre schauen zu müssen. Max Eberl kann noch so stolz und mit einiger Berechtigung auf den Einstelligkeits-Sixpack der letzten Spielzeiten verweisen, den außer Borussia nur Bayern München und der kommende Gegner aus Dortmund vorweisen können. Verpasst die Fohlenelf in dieser Saison zum zweiten Mal in Folge des internationale Geschäft, so wird sie nicht mehr als „Spitzenteam“ wahrgenommen werden – mit entsprechenden Konsequenzen für die Suche nach Sponsoren und neuen Talenten, die sich gerne ambitionierte Klubs aussuchen, bei denen sie Spielpraxis möglichst auch bei internationalen Einsätzen erhalten können.

Gab die Bundesliga-Tabelle noch vor wenigen Wochen ein erfreuliches Bild ab, das so gar nicht zu den schon damals bestehenden kritischen Stimmen im Umfeld passte, so wird das Abrutschen ins (spielerische) Mittelmaß inzwischen auch durch sie dokumentiert. Borussia ist nach sieben Niederlagen aus den letzten zehn Partien endlich auf Platz 10 angekommen. Die Aussicht jetzt auf den zuletzt wieder etwas stärker agierenden BVB treffen zu müssen, der die letzten fünf Direktduelle für sich entscheiden konnte, macht nur wenig Hoffnung auf Besserung schon an diesem Wochenende. Zwar hielt Borussia vor zwei Wochen gegen die ähnlich stark einzuschätzenden Leipziger ordentlich mit und verlor am Ende unglücklich. Das Aufeinandertreffen mit den Westfalen steht aber unter etwas anderen Vorzeichen.

Die Dortmunder haben zuletzt nämlich eher mit ihrer schwächelnden Defensive zu kämpfen, die am Donnerstag selbst dem italienischen Durchschnittsklubs aus Bergamo zwei Auswärtstore ermöglichte. Hier sollten sich auch Borussia Chancen bieten, die sie in letzter Zeit aber zuhauf ausgelassen haben – ein möglicher Vorteil also, der bereits im Ansatz zu verpuffen droht. Gefährlich sind die Schwatzgelben in der Offensive, wo der Hype um Michy Batshuayi nach nur drei Spielen an den einstigen um Pierre-Emerick Aubameyang erinnert. Der belgische Nationalspieler ist ein Torjäger, wie er im Buche steht und bei Borussia seit den Zeiten eines Martin Dahlin nicht mehr gesehen wurde. Die beiden 3:2-Erfolge über den Absteiger aus Köln und Atalanta Bergamo bewerkstelligte er mit seinen Doppelpacks quasi im Alleingang.

Er traf damit in seinen bislang drei Partien für den BVB häufiger als Borussia in den letzten sechs Begegnungen. Stindl befindet sich in einer Formkrise, Hazard ist notorisch abschlussschwach und Raffael hat mit seinen ständigen Wehwehchen zu kämpfen. Allein diese drei Spieler haben in den letzten Jahren zu genüge ihre Klasse unter Beweis gestellt. Würden sie nur halbwegs an diese anknüpfen können, wären die zunehmenden Diskussionen im Umfeld kein Thema und Borussias Fans dürften sich weiter ihres HD-artigen Fußballerlebnisses erfreuen. Da sie es nicht tun, werden die Stimmen lauter, die insbesondere dem Trainer die Hauptschuld an der Form- und Ergebniskrise zuschreiben. Zum Teil ist diese Kritik berechtigt, denn eine Handschrift des Übungsleiter ist auch nach mehr als einem Jahr in der Verantwortung kaum zu erkennen. Ein Großteil der Tore in den letzten Monaten fiel aufgrund individueller Stärken, z. B. bei Standards. Aus dem Spiel heraus ist dies für einen Europapokal-Anwärter viel zu wenig – und das trotz gleichfalls schwächelnder Konkurrenz.

Was definitiv zu weit geht, ist aber die Respektlosigkeit, mit der Dieter Hecking vielerorts begegnet wird. Niemand behauptet, dass der Trainer alles richtig macht. Er hat aber auf seinen vorherigen Stationen, sei es in Lübeck, Nürnberg, Aachen oder in den ersten Jahren in Wolfsburg – unzweifelhaft unter Beweis gestellt, dass er kein Vollblinder ist. Auch er muss sich an dem messen lassen, was seine Mannschaft umzusetzen in der Lage ist. Dass man mittlerweile seit Monaten nicht den Eindruck bekommt, dass die Mannschaft in Gänze ihr Potential abruft und dass eine Handschrift des Trainers kaum erkennbar ist, spricht derzeit nicht für ihn. Es entspricht aber nicht dem Credo des Vereins und insbesondere des Sportdirektors, vorschnell die Reißleine zu ziehen. Spätestens zum Saisonende wird die Gesamtleistung der Saison zu analysieren und zu evaluieren sein, um dann zu entscheiden, was dem Verein die bestmögliche Perspektive bietet. Bei einer nicht ganz unwahrscheinlichen Niederlage gegen den BVB würde die Diskussion im Umfeld noch lauter werden. Ein seriös geführter Verein muss aber in der Lage sein, dies zumindest für eine Zeit lang aussitzen zu können und sich nicht zu sehr von emotionalen Stimmungen treiben zu lassen.

Die unzureichende Umsetzung der potentiellen Qualität im Kader ist das eine. Es muss aber ebenfalls erwogen werden, ob der Kader wirklich so hochwertig ist, wie allgemein angenommen wird. Auf den defensiven Außenbahnen sind Elvedi und Jantschke – bei aller positiven Entwicklung von ersterem – nur Bundesliga-Durchschnitt. Gleiches gilt mittlerweile für Yann Sommer, der vermutlich in die Startelf zurückkehren wird. Vestergaard und Ginter sind in der Innenverteidigung etwas stärker einzuschätzen. Sie haben aber beide nicht die hohe Qualität wie sie z. B. Dominguez oder Christensen in der Vergangenheit besaßen. Ginter hat in dieser Woche zumindest in den Interviews seinen Führungsanspruch untermauert, was positiv zu sehen ist. Gegen seinen Ex-Klub muss er dies jetzt aber auch durch Leistung und Einsatz auf dem Platz untermauern.

In der Defensive und Offensive würde Borussia jeweils ein weiterer Qualitätsspieler gut tun. Es war reichlich naiv zu glauben, die Verletztenmisere der letzten Jahre würde sich in dieser Spielzeit in Luft auflösen. Es ist gut, dass sich der Verein in diesem schwierigen Bereich hinterfragt und nach Gründen sucht, um diese abzustellen. Allein die Beschäftigung eines erfahrenen Arztes wird hier aber nicht ausreichen. Zumal dieser bereits zuvor in München und Dortmund eine ähnliche Verletztenliste nicht verhindern konnte. Gerade bei Raffael war schon im letzten Jahr sein Alterungsprozess unverkennbar. Wäre Vicenzo Grifo so eingeschlagen wie zuletzt in Freiburg, würde sich die Problematik vermutlich nicht stellen. Anstelle der unbrauchbaren Alternativen Drmic und Bobadilla wäre aber eine weitere viel versprechende Offensivoption im Kader dringend geboten. Weniger entscheidend, ob dies dann unbedingt ein klassischer Neuner sein müsste, auf den Borussia bekanntlich seit Jahren –und lange Zeit mit großem Erfolg – verzichtet oder eine andere spielerische, aber torgefährliche Lösung.

Ehe diese Versäumnisse aus den letzten Transferperioden im kommenden Sommer behoben werden können, muss die Mannschaft die laufende Saison in der vorhandenen Besetzung weiterspielen. Der letzte große Erfolg war das umjubelte 2:1 gegen den FC Bayern im November des vergangenen Jahres. 10 durchwachsene Spiele später wäre es kein schlechtes Signal, wenn die jüngste Form- und Ergebniskrise ausgerechnet gegen die vermeintliche zweite Kraft des Landes beendet werden könnte.

 

Borussia: Sommer – Elvedi, Ginter, Vestergaard, Jantschke – Herrmann, Kramer, Zakaria, Hazard – Stindl, Raffael

Dortmund: Bürki – Piszczek, Sokratis, Akanji, Schmelzer – Pulisic, Dahoud, Weigl, Reus, Schürrle – Batshuayi

 

Seitenwahl-Tipps

Michael Heinen: Der BVB ist aktuell leider eine Nummer zu groß für Borussia. Trotz ordentlicher Leistung führt das 1:2 und damit die vierte Niederlage in Folge zu einer Verschärfung der Krise.

Claus-Dieter Mayer: Das zähe 1:1 im Spiel zwischen Verunsicherung und Müdigkeit bringt keine der Borussias weiter, stoppt aber immerhin vorerst die Gladbacher Niederlagenserie.

Christian Spoo: Borussia ist aus der Spur, das nutzen Reus und der neue Typ mit dem komischen Namen gnadenlos aus. Dortmund gewinnt mit 3:0.

Thomas Häcki: Borussia präsentiert sich gegen die ebenfalls nicht gefestigten Lüdenscheider sowohl ideen- als auch chancenlos. Ob man es möchte oder nicht: Nach dem 0:2 nimmt die Trainerdiskussion spürbar an Fahrt auf.

Uwe Pirl: Alles wie immer: Borussia Mönchengladbach ./. Marco Reus – 0:4.