Es spricht bei aller berechtigten Kritik an der aktuellen Entwicklung doch sehr für die Sportart Fußball, dass man auch nach 38 Jahren regelmäßigen Stadionbesuchs nach einem Spiel dasselbe mit den Worten „So etwas habe ich noch nie gesehen“ zusammenfassen kann. Das war es dann aber auch, mit den positiven Aspekten des Gladbacher Heimdebakels gegen Leverkusen. Dabei war es nicht die Niederlage an und für sich oder ihre Höhe, die einen deutlichen Neuigkeitswert hatte. Ein Heimdebakel gegen Leverkusen gab es nicht zum ersten Mal. Das 2:8 im Jahr 1998 war allerdings deutlich „gewöhnlicher“. Borussia war seinerzeit über 90 Minuten unterlegen - und kassierte pro Halbzeit „nur“ vier Gegentreffer. Kein Vergleich mit dem absurd anmutenden Spielverlauf beim 1:5 vom vergangenen Samstag. Das hinterlässt Borussia abermals in einer Situation, in der niemand sagen kann, wo die Mannschaft genau steht. Schlechte Vorzeichen für das morgige Pokalspiel gegen Fortuna Düsseldorf. Vor dieser Partie muss man feststellen, dass die Favoritenrolle getauscht wurde. Wenn Tabellenführer der Zweiten Liga das möglicherweise verunsichertste Team der Ersten besiegte, wäre das keine Pokalsensation mehr.

Sicher kann man sagen: Gefestigt ist bei Borussia überhaupt nichts. Das Selbstbewusstsein der Mannschaft ist ähnlich gefestigt, wie ein Samen an einer Pusteblume. Der Kopf so kühl wie bei 40 Fieber. Die Spielanlage so reif wie eine grüne Banane. Nach einer überlegen geführten Halbzeit reicht ein blödes Gegentor, um alle Tugenden, die eine Mannschaft aus dem oberen Drittel der Bundesligatabelle auszeichnen sollte, vergessen zu lassen. Statt sich zu schütteln und weiterzuspielen wie bis dahin, wirft das Team alles nach vorne, löst die Defensive auf und lässt sich auch durch weitere Gegentore nicht mehr von dieser kindischen Reaktion abbringen. Der Übungsleiter am Spielfeldrand konstatiert hernach zwar zutreffend, dass das nicht der Weisheit letzter Schluss war, scheint aber während der zweiten 45 Minuten geradezu paralysiert dem Geschehen zu folgen. Der  gemeine Anhänger auf den Rängen weiß derweil zwischen Augenreiben und Haareraufen nicht, wohin mit den Händen.

Schon in der ersten Halbzeit, in der Borussia biedere Leverkusener klar beherrschte, manifestierte sich das Problem, dass die Mannschaft schon eine geraume Zeit mit sich herumschleppt: Sie braucht zu viele Chancen für ein Tor. Die Effizienz vergangener Zeiten ist lange vergessen. In schöner Regelmäßigkeit lassen die Spieler Großchancen liegen, selbst wenn Jonas Hofmann gar nicht auf dem Platz ist. Der von Dieter Hecking wegen seiner vermeintlichen Nervenstärke am ruhenden Ball zum „Eisvogel“ geadelte Thorgan Hazard, gleicht bei Chancen aus dem Spiel heraus eher einem Kolibri. Derart flattern dem Belgier die Nerven, dass er den Ball aus zwei Metern nicht im Tor unterbringt. Oscar Wendt, der sich selbst als Leader versteht, zögert zunächst vor dem Tor so lange, bis ein Gegenspieler im Weg liegt und traut sich danach – der Wendepunkt des Spiels – aus aussichtsreichster Position gar nicht mehr, aufs Tor zu schießen sondern legt in einem Anflug fataler Selbstlosigkeit auf den schlechter Positionierten Mitspieler ab. Schließlich zeigt auch Raffael zur Unzeit, dass ihm vor dem gegnerischen Tor bisweilen die Entschlossenheit fehlt.

Dass nach der Wendt-Nicht-Chance auf den Rängen so mancher „das rächt sich“ raunte, ist vermutlich eher der Liebe des gemeinen Fußballfans zur Floskel zuzuschreiben, als einer tatsächlichen Ahnung, was da kommen würde. Denn was da kommen würde, konnte in diesem Ausmaß niemand ahnen. Ersparen wir uns an dieser Stelle das erneute Aufzählen all der Dinge, die nach dem überraschenden 1:1 falsch gemacht wurden. Komme aber bitte niemand mit „Sie haben ja gewollt“. Natürlich haben sie gewollt. Aber viel zu viel viel zu sehr. Die Reaktion Borussias auf die Leverkusener Aufholjagd war die einer E-Jugend-Mannschaft. Was das Ganze noch schwerer erträglich macht, ist, dass einiges am Leverkusen-Spiel fatal an die Niederlage bei Borussia Dortmund erinnerte. Auch beim 1:6 vier Wochen zuvor ließen die Gladbacher Angreifer diverse Großchancen liegen, suchten ihr Heil fortwährend in der Offensive, waren aber gegen die schnellen Konter des Gegners ohne Rezept.

Mit der Haltung einer E-Jugend Mannschaft sollte man im DFB-Pokal nicht antreten. Erst recht nicht als klassenhöheres und auf dem Papier um Längen besser besetztes Team. Aber selbst nach geglückter Fehleranalyse seitens Borussia steht Fortuna Düsseldorf morgen Abend unversehens als Favorit dar. Fortuna ist die Mannschaft der Stunde in der Zweiten Liga, der zur Zeit alles glückt, die auch schwächere Spiele, wie am Wochenende gegen Darmstadt, gewinnt, die mit Teamgeist und – aufpassen Borussia – aus einer ausnehmend stabilen Defensive heraus mit fast schon beruhigendem Abstand an der Tabellenspitze steht. Trainer Friedhelm Funkel hat aus dem vormaligen Abstiegskandidaten eine unspektaulär souveräne Mannschaft geformt. Für diese Mannschaft ist die Zweitrundenpartie im DFB-Pokal ein absoluter Höhepunkt. Die Presse in der Landeshauptstadt jazzt das „kleine Derby“ seit Wochen zum Event der Sonderklasse hoch. Die Düsseldorfer Arena ist bis auf den letzten Platz ausverkauft. Borussia muss gegen top motivierte Fortunen die Ereignisse vom Samstag irgendwie ausblenden, wer die zweite Halbzeit im Borussia-Park miterleben musste, wird sich dennoch nicht gerade voller Optimismus auf den Weg nach Düsseldorf oder es sich vor dem Fernseher bequem machen.

Personell hat sich für Dieter Hecking nicht viel geändert. Einige Hoffung ruht auf Christoph Kramer, dem man gegen Leverkusen am ehesten noch die nötige ruhige und ordnende Hand in der Defensive zugetraut hätte. Wenn der Ex-Nationalspieler fit ist, wird er spielen. Vorne könnte Hecking auf den Flügeln etwas ändern, Traoré oder Grifo böten sich an. Wahrscheinlicher ist es in Kenntnis der Denke des Trainers aber, dass er den Spielern, die am Samstag auf dem Platz standen, die Chance einräumt, sich zu bewähren.

Fortuna Düsseldorf kann dagegen nicht ganz mit der ersten Elf antreten. Mit Lukas Schmitz und Kaan Ayhan sind zwei Stammspieler gesperrt – just in der vielgelobten Defensive des Zweitligisten. Der Ausfall von Torwart Michael Rensing dagegen scheint die Mannschaft kaum zu schwächen. Der frühere Bremer Keeper Raphael Wolf vertritt den einstigen designierten Kahn-Erben ohne Qualitätsverlust.

Mit Interesse wird man bei Borussia beobachten, wie sich Florian Neuhaus gegen seinen eigentlichen Arbeitgeber schlägt. Der Mittelfeldmann macht in Düsseldorf das, was Max Eberl sich erhofft hat: Er sammelt Erfahrung. Das macht er derart beeindruckend, dass Borussia ihn nach der Saison mit Kusshand zurücknehmen wird und sich schon im Sommer vermutlich mit Anfragen anderer finanzkräftigerer Klubs wird herumschlagen müssen. Gegen Borussia, versprach Neuhaus pflichtgemäß den Düsseldorfer Fans, sei es für ihn ein Spiel wie jedes andere. Er werde sich für Fortuna zerreißen. Borussia sollte nicht nur deswegen gewarnt sein.

Mögliche Aufstellung

Düsseldorf: Wolf – Schauerte, Bormuth, Hoffman, Gießelmann – Zimmer, Sobottka – Fink, Neuhaus – Raman, Kujovic

Borussia: Sommer – Elvedi, Ginter, Vestergaard, Wendt – Kramer, Zakaria – Hazard, Johnson – Raffael, Stindl

SEITENWAHL-Prognose

Christian Spoo: Zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre endet für Borussia die Reise nach Berlin schon nach etwas mehr als 20km Richtung Osten. Fortuna Düsseldorf gewinnt verdient und souverän mit 2:0.

Claus-Dieter Mayer: Nach der Niederlage im Elfmeterschiessen (1:1 nach regulaerer Spielzeit und Verlaengerung), kann sich die Borussia nun voll auf die Bundesliga konzentrieren.

Michael Heinen: Geschichte wiederholt sich. Das Pokalspiel zwischen der Düsseldorfer Fortuna und der Gladbacher Borussia wird durch einen Treffer von Raffael entschieden. Dieses Mal gewinnt so aber der richtige Verein mit 1:0.

Uwe Pirl: Nach dem Debakel vom Wochenende muss man wünschen, dass keine Konstanz einkehrt. Stattdessen geht die Achterbahnfahrt weiter: Borussia gewinnt 4:3 in Düsseldorf. ... nicht im Elfmeterschießen.