Darmstadt 98Werder BremenEtwas mehr Loyalität zum Arbeitgeber dürfte man doch erwarten. Mit den Pfosten ist dringend ein klärendes Gespräch vonnöten. Dreimal binnen sechs Minuten prallte der Ball im Pokalkrimi gegen Werder Bremen gegen einen der Torpfosten im Borussia-Park. Dreimal hätten Zentimeter genügt, um dem Spiel eine entscheidend andere Richtung zu geben. Man erwartet ja gar nicht viel. Dezente Unterstützung im besten Fall, zumindest aber eine gewisse Ausgewogenheit. Aber alle drei Mal lenkten die Pfosten den Ball im Sinne der Gäste zurück. Zuerst prallte Sternbergs Fernschuss an den Pfosten – und von dort ins Gladbacher Tor. Dann prallte Hazards Schuss an den Pfosten – und von dort ins Feld, und zwar nicht etwa zum in der Mitte auf einen Abpraller wartenden Lars Stindl, sondern direkt in die Arme von Bremens Torhüter Wiedwald. Fast im direkten Gegenzug prallte der Ball ein drittes Mal an den Pfosten – und von dort genau vor die einschussbereiten Füße von Bremens Vestergaard. Also wirklich, liebe Pfosten, man kann es mit der Gastfreundschaft auch übertreiben.

Wer weiß schon, was in so einem Torpfosten vor sich geht. Viel zu oft gehen wir achtlos daran vorbei. So ein Torpfosten hat ja eigentlich ein recht langweiliges Leben, mit viel Zeit zum Nachdenken. Steckt hinter diesem Akt dreifacher Illoyalität ein Schrei nach Aufmerksamkeit? Protest gegen lieblose Pfostenpflege durch den Platzwart? Der Wunsch nach besserem Rostschutz? Aufbegehren gegen die diskriminierende Verwendung des Schimpfwortes „Vollpfosten“? Oder die Sehnsucht, einmal so sehr zum Hauptakteur zu werden, wie jener berühmte Vorfahr, von dem sich die Torpfosten ehrfurchtsvoll erzählen mögen, abends, wenn das Stadion im Dunkel liegt und die Stille wie eine Schneeschicht über den verwaisten Tribünen? Jener Vorfahr nämlich, der am 3. April 1971 den ultimativen Akt der Rebellion beging, auch er in einem Gladbacher Heimspiel gegen Werder Bremen? Der in der Mitte durchbrach und damit für einen Spielabbruch und für eine Revolution der Pfostenherstellung (seitdem in der gesamten Bundesliga aus Aluminium statt aus Holz)?

Ganz so legendär wurde es an diesem Abend nicht. Und auch dem ebenfalls berühmten Pokalspiel zwischen Gladbach und Werder aus dem Jahr 1984 konnte der Abend nicht ganz das Wasser reichen, obwohl zu einem so viel nicht viel fehlte. Chancen auf Gladbacher Seite hätte es genug gegeben und auch in der Defensive war die Borussia ähnlich spendabel wie jenes Team von vor 31 Jahren, das einen 3:4-Rückstand dank zweier Tore des eingewechselten Hans-Jörg Criens noch in ein 5:4 umbog. Hrgota, der zuvor schon fast vergessene, hätte der neue Criens werden können, auch Hazard. Offensiv ist der Borussia kaum etwas vorzuwerfen. Ungeachtet der Ausfälle von Herrmann, Hahn und Traoré spielte sie sich ideenreich und variabel zahlreiche Chancen heraus und man kann auch nicht behaupten, dass sie diese kläglich vergab. Es fehlte an diesem Abend einfach auch das so oft beschworene Quäntchen.

Das Problem liegt im Spiel gegen den Ball. Zu den erfolgreichsten Zeiten der Ära Favre – und es gab nur kurze Wegstrecken, die nicht dazu gehörten – war die defensive Stabilität die Basis des Gladbacher Spiels. Ging Borussia in Führung, konnte man sich einigermaßen entspannt zurücklegen. Meistens reichte das. Es war schwer, gegen Favres Borussia ein Tor zu erzielen, geschweige denn mehrere. Diese Zeiten scheinen fürs Erste vorbei.


Die Zahlen sind einigermaßen dramatisch:  Die Borussia hat allein in der Bundesliga 28 Gegentore in 16 Spielen kassiert (15 aus Champions-League und Pokal kommen dazu). In der Liga waren nur Bremen und Stuttgart noch anfälliger. Anders gesagt: Ginge es allein nach Gegentoren, die Borussia würde sich mit Hannover den Relegationsplatz teilen. Das hat man zuletzt in der Saison 09/10 erlebt, damals unter der Leitung von Michael Frontzeck, als Gladbach am Ende einen (damals viel gelobten) 12. Platz erreichte, aber auch damals die drittmeisten Gegentore der Liga kassierte.

Hinzu kommt ein Weiteres: Zumindest für eine Weile konnte man einen Großteil der Gegentore unter zwei Rubriken verbuchen: zum einen eine Elfmeterflut, genährt durch ungeschicktes Verhalten im eigenen Strafraum und manch seltsamen Schiedsrichterentscheiden. Und zum anderen eine Schwäche in der Luft bei gegnerischen Standards, gespeist auch aus dem verletzungsbedingten Ausfall von Stranzl und Dominguez, zweier erfahrener Türme in der Schlacht. Beides schien einigermaßen behebbar: durch Aufarbeiten der Situationen, die zu den Elfmetern geführt hatten, durch die Rückkehr zumindest eines der Verletzten oder, im Winter, durch die Verpflichtung eines kopfballstarken Innenverteidigers.

Inzwischen scheinen die Probleme aber tiefer zu liegen: Die offensiv orientierte, dadurch hoch attraktive und zum Glück auch effektive Spielweise, die Gladbach die drittbeste Torausbeute der Liga beschert, ist für die Spieler enorm kräfteraubend. Das ließ sich, auch von der Euphoriewelle nach den ersten Erfolgen unter neuem Trainer getragen, eine Weile kompensieren. Durch die Vielzahl der Spiele und die verletzungsbedingte Ausdünnung des Kaders, die eine Favresche Rotation unmöglich machte, scheinen viele Spieler inzwischen aber schlicht am Ende ihrer Kräfte. Auch deshalb braucht es dringend Verstärkungen im Winter, selbst wenn die Dreifachbelastung in der Rückrunde entfällt.

Zuvor aber steht die Partie gegen Darmstadt an und damit die Chance, eine verrückte Hinrunde mit einem erfreulichen Schlussakkord zu beenden.  Der Aufsteiger scheint auf dem Papier Gladbachs Defensive nicht übermäßig zu fordern: Nur 15 eigene Saisontore haben die Hessen bislang erzielt, der drittschlechteste Wert der Liga. Aber das solches nicht allzu viel heißen muss, war diese Woche ja bereits zu besichtigen: Bremen hat in der Liga nur ein Tor mehr geschossen als Darmstadt, gegen Gladbach am Dienstag aber auf einmal deren vier. Und daran sind eben nicht allein die Torpfosten schuld.

Aufstellungen:

Borussia Mönchengladbach: Sommer – Korb, Christensen, Nordtveit, Wendt – Xhaka, Dahoud – Hazard, Johnson – Raffael, Stindl.
Darmstadt 98: Mathenia – Garics, Sulu, Caldirola, Junior Diaz – Jungwirth, Gondorf – Kempe, Rausch – Vrancic – Wagner.

Schiedsrichter: Benjamin Brand.
Assistenten: Robert Schröder, Frederick Assmuth.
Vierter Offizieller: Dr. Robert Kampka.

SEITENWAHL-Meinung:

Christoph Clausen: Die Null steht hinten wieder nicht, vorne ist die Borussia aber einfallsreich genug, um mit einem 3:2-Heimsieg in die Winterpause zu gehen.

Michael Heinen: Eigentlich spricht vieles dafür, dass diese verrückte Hinrunde genauso mit einer bitteren Niederlagenserie endet wie sie begonnen hat. Ich habe aber keine Lust, mit einer weiteren Niederlage und dann nur noch einer durchwachsenen Saisonhälfte Weihnachten zu feiern. Deshalb wünsche ich mir noch einmal einen letzten Kraftakt der Fohlenelf und einen versöhnlichen 2:1-Sieg zum Jahresabschluss.

Christan Spoo: Wir gewinnen 1:0. Irgendwie. Begründen kann ich das nicht, das muss einfach sein.