VfB StuttgartBiologen unterscheiden zwischen sogenannten r- und k-Strategien. Das Wort „Strategie“ ist zwar irreführend, die Unterscheidung an sich aber hilfreich: R-Strategen konzentrieren ihre Energie darauf, möglichst viele Nachkommen zu zeugen, die sie dann aber weitgehend sich selbst überlassen. Sie nehmen also in Kauf, dass nur ein Bruchteil überleben wird. K-Strategen zeugen nur wenige Nachkommen, verwenden dann aber viel Energie darauf, deren Überlebenschancen zu erhöhen. Was hat das mit Fußball zu tun? Man ersetze „Nachkommen zeugen“ durch „Torchancen kreieren“ und „Überlebenschancen erhöhen“ mit „Torchancen verwerten“ und man hat zwei idealtypische Wege zum Erfolg.

Sportdirektoren und Trainer aus der Kategorie „r-Strategen“, um den Gedanken weiterzuspinnen, bevorzugen bei der Personalauswahl  - bei Transfers wie der allwöchentlichen Aufstellung -  vor allem Spieler, die das kreative Moment einbringen, also in der Lage sind, zahlreiche Torchancen zu kreieren. Dass solche genialischen Schönspieler einen Gutteil der so geborenen Chancen ungenutzt lassen, nehmen die r-Strategen in Kauf. Sie wissen: Spieler, die beides können – den tödlichen Pass wie den eiskalten Abschluss – sind selten und für die meisten Vereine kaum zu bezahlen. Das wissen auch K-Strategen. Sie investieren Ablösesummen im Zweifel aber eher in eiskalte Strafraumkiller. Wer solche Spieler in seine Reihen hat, so die Logik dahinter, muss keine Torchancen im Fünfminutentakt erarbeiten, um regelmäßig zu jubeln.

Wer den Gegensatz überspitzt findet, hat völlig Recht. Das ist bei der evolutionären Unterscheidung nicht anders: Sie beschreibt zwei Idealtypen; in der Praxis gibt es zahlreiche Mischformen und fließende Übergänge. In den meisten Fällen geht höchstens um Tendenzen eher in Richtung des einen oder des anderen Extrems. Es fehlen aber noch zwei Sonderfälle: Vereine, die die Vorteile von r- und k-Strategie vereinigen – oder ihre Nachteile. Die erste Kategorie, die Vorteils-Vereiniger – können sich sowohl geniale Vorbereiter als auch eiskalte Strafraumspezialisten in größerer Zahl leisten – manchmal, der Name Messi drängt sich auf, sogar in Personalunion. Das sind Vereine wie Bayern München oder der FC Barcelona. Ein auf den ersten Blick schöner Zustand für diese Vereine und deren Anhänger, der aber, evolutionär gesprochen, das ökologische Gleichgewicht, sprich den lebendigen Wettbewerb bedroht, aus dem der Fußball seine Faszination bezieht. Und dann gibt es die Nachteilsvereiniger, die, die sich wenig Chancen erarbeiten und mit denen dann auch noch schlampig umgehen. Solche Vereine kämpfen auf Dauer um ihre Existenz, so wie Tierarten, die r- und k-Nachteile verbinden vom Aussterben bedroht sind.

Luuk de JongBorussia hatte in den letzten Jahren eine r-Tendenz. Das klassische Strafraumungeheuer musste sich hinten anstellen. Wo kostspielige Versuche mit Luuk de Jong und Josip Drmic in diese Richtung gewagt wurden, gingen sie bislang schief. Favorisiert wurden eher Spielertypen, die sich für das schnelle, variable Kombinationsspiel eigneten. Daraus entstanden zahlreiche Torchancen, von denen freilich nicht wenige liegen gelassen wurden. In den erfolgreichsten Gladbacher Spielen der letzten Jahre machte das aber nichts: Bei der Spielfreude, die die Offensivkräfte der Borussia entfalteten, ergaben sich zwangsläufig so viele Gelegenheiten, dass man sich eine gewisse Großzügigkeit in der Verwertung leisten konnte.

Die Tendenz insbesondere der letzten beiden Heimspiele zeigt aber bedenklich in die andere Richtung, in die der Nachteilsvereiniger. Mochten André Schubert und Max Eberl hinterher auch anderes behaupten, sowohl gegen den Hamburger SV als auch gegen den VfB Stuttgart ließ die Borussia sowohl im Bereich Chancen-Kreation als auch Chancen-Verwertung zu wünschen übrig. Es ist richtig, gegen den HSV kam man in der Schlussphase noch zu der einen oder anderen Großchance. Dennoch: Gegen einen erstens nahe der Zweitklassigkeit agierenden und zweitens lange in Unterzahl spielenden Gegner war die Zahl der Gladbacher Torchancen deutlich zu gering. Viel zu selten nutzten die Borussen ihre Überzahl und Ballfertigkeit zu schnellem Kombinationsspiel. Wo sie es taten, zeigte sich sehr schnell, wie verwundbar die HSV-Defensive auch an jenem Tag war. Nächstes Heimspiel, gleiches Bild: Auch gegen den zweitklassigen Gegner aus Stuttgart regierte Gladbacher Behäbigkeit und Umständlichkeit und blieben Torchancen ein knappes Gut.

Fabian JohnsonAm Ende war gegen die Schwaben noch genug Abschlussstärke verblieben, um in die nächste Pokalrunde einzuziehen. Aber dass die Partie erst spät entschieden wurde, hatte damit zu tun, dass die Borussia auch im Bereich Chancenverwertung zu wenig überzeugten. Wie z.B. André Hahn völlig frei vor Langerak bei seinem Schussversuch wegrutschte, hatte geradezu slapstickartige Züge. Gegen den HSV hatte die Borussia nicht nur durch gleich zwei verschossene Elfmeter für ein Kuriosum gesorgt, Stindl und Elvedi hatten überdies das Tor aus jeweils wenigen Metern verfehlt. Solch spendablen Züge können sich auf Dauer eigentlich nur r-Strategen leisten.

Aber das sind die Borussen zur Zeit nicht. Raffael und Hazard fehlen an allen Ecken und Enden. Der Brasilianer ist seit Jahren das Herzstück der Abteilung Chancen-Geburt (zudem einer der fleißigsten Verwerter, quasi ein Messi in für Gladbach erschwinglichen Dimensionen), der Belgier wuchs zuletzt zunehmend in diese Rolle hinein. Sind sind das, was Hans Meyer „Topper“ nannte: Spieler, die ihrer Mannschaft nicht nur direkt durch ihre Qualität helfen, sondern auch indirekt, weil sie ihre Mitspieler auf ein ganz anderes Niveau heben. Ihren Doppel-Ausfall kann Borussia aktuell nicht kompensieren, auch wenn es Spielertypen im Kader mit auf den ersten Blick ähnlichen Ansätzen gibt. Einem Mo Dahoud oder einem Jonas Hofmann mag man zugetraut haben, zumindest perspektivisch ähnliche Aufgaben zu übernehmen. Beide sind aktuell damit sichtlich überfordert. Ein Djibril Sow und ein Laslo Benez sind noch ungedeckte Versprechen für eine fernere Zukunft.

Dass man gegen den VfB letztlich doch relativ ungefährdet in die zweite Runde einzog, hat man neben der Begrenztheit des Gegners einer deutlich verbesserten Defensivleistung zu verdanken. Das ist denn auch die positive Nachricht der letzten Begegnungen. Musste man sich nach dem Debakel von Schalke noch ernsthaftere Sorgen um die Balance des Gladbacher-Spiels machen, hat die Borussia zumindest gegen Gegner mit mittelmäßiger oder schwächerer Offensive kaum etwas zugelassen: gegen Hamburg, in Glasgow und gegen Stuttgart. Und die Bayern sind nun mal die Bayern.

Dennoch: Will man sich in der Liga mehr als nur mittelmäßige Ziele avisieren, wird die Borussia offensiv in mindestens einem der beiden Bereiche zulegen müssen: Entweder es gelingt, wieder öfter an das schnelle Kombinationsspiel einer helleren Vergangenheit anzuknüpfen und mehr Torchancen zu kreieren. Oder man stellt sich bei der Verwertung wieder geschickter an. Anders gesagt: Wer zu r momentan nicht in der Lage ist, braucht mehr k. Schlampigkeit in beiderlei Hinsicht wäre auf Dauer ein sicheres Rezept für fußballerische Tristesse und tabellarisches Mittelmaß.