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So stolz man ist, daß der eigene Verein etwas Besonderes ist, so gerne wünscht man sich ab und zu Normalität. Hierzu zählt das gelegentliche Gewinnen von Heimspielen, um von höheren Ansprüchen wie einem der Gesundheit zuträglicheren Tabellenstand oder Hoffnung auf nachhaltige Besserung erst gar nicht zu reden. Nichts davon sind wir mehr gewohnt, doch vielleicht gerade deshalb haben wir uns in unserer Sorgenecke durchaus wohnlich eingerichtet, versehen mit einem kuscheligen dicken Fell. Es gibt jedoch Tage, da hebt sich der Schleier der Umnachtung, und es kommen grundsätzlichere Gedanken auf. Der vergangene Samstag zählte dazu, und wer das Spiel gegen Stuttgart gesehen hat, fragt sich womöglich, ob Borussia noch eine Fußballmannschaft ist oder nicht eher ein mobiles SM-Studio, engagiert von einem perversen Kölner, der den Niederrhein in den Wahnsinn treiben möchte. Oder vielleicht handelt es sich um ein Experiment englischer Kick and rush-Wiedergänger, die am lebenden Objekt testen, ob man ohne eigenen Ballbesitz Spiele gewinnen kann?


Jedenfalls war dieser Samstag ein Tag, an dem man die Schnauze davon voll hat, ins Stadion zu gehen, um das Versuchskaninchen für die Psychosen des Fußballgottes – oder seiner irdischen Stellvertreter – abzugeben. Nach diesem Spielverlauf liegen jedenfalls Querbezüge auf eine Voodoo-Klapse nahe. Du hast einen Aufbaugegner, der in 45 Minuten nicht einmal aufs Tor schießt, der 2:0 hinten liegt und dessen Moral genauso wenig Furcht verbreitet wie dessen Trainer, und dann verlierst Du noch. Und wie! Ich lese viel von Systemumstellungen der Stuttgarter zur Halbzeit, doch lügen wir uns nicht in die Tasche: Bereits ab der 35. Minute hat Borussia das Fußballspielen eingestellt und sich nur noch in die Pause gerettet. Nicht der VfB hat dieses Spiel gewonnen, sondern der VfL verloren.

Vor wenigen Wochen spielte der wunderbare Tilo Prückner eine berückend eingängige „Tatort“-Rolle als Vater eines Mörders, der der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollte, obwohl er längst ahnte, wie sein Sohn wirklich war. Nein, sagte er, der Junge ist im Kern nicht schlecht. Sicher hat er so seine Probleme, und es gab auch früher schon mal ein paar kleiner Übergriffe auf Bekannte, aber das machen doch viele, und Mord, nein, das ist ja viel schlimmer, so etwas macht mein Junge nicht. Der Richter hat ihn doch auch freigesprochen; klar mag es da ein paar Beweise gegeben haben, aber die waren vor Gericht halt nicht zulässig, weil die Polizei geschlampt hat. Die Nachbarn sollen ihn endlich in Ruhe lassen, dann packt er das schon. Gelegentlich fragt der Vater dann immerhin den Sohn: „Warst Du es?“ Doch der Sohn schweigt, und alles bleibt gut, wie es schon immer war.

Ich fühlte mich am Samstag im Stadion an Tilo Prückner in dieser Rolle erinnert. Ich bin es ja gewohnt, auf Nachfragen der Kollegen oder der Familie zu sagen: Wir haben halt verloren, aber das Spiel war nicht schlecht. Der Blinde hat uns mal wieder verpfiffen. Der eine Schuß ging nicht rein, und Sekunden später kam dann der blöde Konter. Der Freistoß in den Winkel war auch nicht zu halten – einfach Pech. Doch im Grunde weiß ich seit langem: Sie sind einfach zu blöd. Sie haben zwei Beine mit zwei Füßen dran, doch wo der Kopf sein sollte, hängt nur ein Ballon mit Grütze drin. Und so ist es nicht viel mehr als blanker Selbstschutz, wenn man weiterhin nach dem Guten sucht, denn es hängt ja die Geschichte des eigenen Lebens dran: 36 Jahre Fan von Borussia, da fällt es nicht leicht, in einem gedankenhellen Moment zu sagen: Die Grützköpfe sind es einfach nicht wert.

Inzwischen sollte es aber vielen dämmern. Die größten Knallschoten sind aussortiert, Bobadilla und Bailly etwa. Dem Wahnsinn tut das keinen Abbruch. Platzverweise en masse, weil Harakiripässe gespielt werden wie der von Levels vor dem 2:3. Freistöße vor dem Tor und Elfmeter en masse. Ballverluste ohne Ende, als sei es verboten, nach drei Stationen immer noch in Ballbesitz zu sein. Mittelfeldspieler ohne Ende, doch spätestens nach drei Sekunden folgt von ganz hinten nach ganz vorne der lange Ball ins Nichts, als sei Rob Friend immer noch da und Arie van Lent noch nicht in Rente. Und am Schiedsrichter liegt es schon gar nicht: Elfmeter samt gelb-rot war gerechtfertigt, und für das aberkannte eigene dritte Tor habe ich wenigstens ein bißchen Verständnis, auch wenn die Entscheidung hart und unglücklich war: Aus der Perspektive des Schiedsrichters waren gleich zwei Arme am oder vor dem Ball, und das kann man halt mal abpfeifen, wenn man schnell entscheiden muß.

Kurzum: Es ist Zeit, das Kuscheln zu beenden, und in meiner gemütlichen Ecke fühle ich mich auch nicht mehr wohl. Ich hatte während der zweiten Halbzeit das Gefühl, daß viele Fans wie ich innerlich zerrissen waren: Man wollte das Team unterstützen, war aber gleichzeitig vor Entsetzen wie gelähmt. Es war daher gegen Stuttgart nicht irgendein Spiel, sondern wie sich am Ende zeigte, eines, das die Stimmung bis auf weiteres kippen könnte. Die Zeit der Augenwischerei und der Verfolgungstheorien ist jedenfalls vorbei. Zwar lebt die Hoffnung, und es ist durchaus realistisch, daß wir in St. Pauli gewinnen. Der Glaube ist aber nahezu zerstört, daß die Mannschaft die Chancen, die sie ohne Zweifel noch erhalten wird, auch zu nutzen vermag. Jede normale Mannschaft könnte sie nutzen, doch dies ist keine normale Mannschaft: Es ist Borussia 2010/11, eine Ansammlung begabter Akteure, die wie die Lemminge als Gruppe von der Klippe springen, als sei dies genetisch programmiert, sobald man ein Trikot mit der Raute trägt.

Das gerade ist an der derzeitigen Situation das Schlimmste. Früher ist man einfach sang-, klang- und chancenlos abgestiegen, jetzt jedoch quält man uns vorher, und wie es scheint mit stets verfeinerten Methoden. Vielleicht sind wir aber einfach nur verweichlicht, oder wir selbst sind die Irren, denen der Doktor sagt, Ihr müßt nur die Perspektive ändern, und schon wird alles gut. Sehen wir es also wie folgt: Am Samstag waren wir genauso toll drauf wie die Bayern, 2:0 geführt, 2:3 verloren, halt alles im 70er-Jahre-Gleichschritt. Und als ich abends nach Hause kam und dachte, Du brauchst jetzt wenigstens eine gute Nachricht, schau mal, wie Arsenal gespielt hat, da sah ich: 4:0 geführt zur Halbzeit, Endresultat 4:4. Die Welt wankt, vielleicht müssen wir einfach mit Borussia nachsichtig bleiben. Doch innerlich wissen wir es in diesen lichten kurzen Momenten besser. Dann schauen wir in den Spiegel und lächeln – und freuen uns aufs nächste Auswärtsspiel.