Es war am 29. April 1978 als ich mich mein Kumpel Stephan in der groβen Pause – damals gab es noch Samstags Unterricht – fragte, ob ich vielleicht Lust hätte zum Spiel Borussia-Dortmund mitzukommen, sein Vater habe sich kurzfristig entschieden hinzufahren. Zum meisterschaftsentscheidenden Spiel ohne Karte einfach so hinfahren? Damals kein Problem, zumal der Bökelberg umgebaut wurde und der Kick in der weiten Schüssel des Düsseldorfer Rheinstadions stattfand. So wurde ich Zeuge des höchsten Bundesligasieges aller Zeiten, der – typisch für den VFL – trotzdem eine kleine Tragödie war, da am Ende 3 Tore zur Meisterschaft fehlten.

 Natürlich gab es danach allerlei Gerüchte, dass dies unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein könne. 12 Tore, wo gibt’s denn sowas? Diese Zweifler hatten wohl übersehen, dass die gleiche Mannschaft gerade mal eine Woche vorher dem HSV auf eigenem Platz 5 Tore innerhalb einer Viertelstunde eingeschenkt hatte um das Spiel von 1:2 zu 6:2 zu drehen. Und auch der bis dato höchste Bundesligasieg kam aus der Produktion der Gladbacher Torfabrik: ein 11:0 gegen Schalke im Jahre 1967. Hohe Siege waren in jenen Jahren eine Spezialität der Fohlenelf und dieses torfreudige Spiel war sicher auch einer der Gründe warum ich mich als Knirps in dieses Team verliebte, denn taktische Defensivfeinheiten können einen 6-jährigen jetzt noch nicht so richtig vom Hocker hauen.

 Selbst als der Glanz der goldenen 70er schon lange verblasst war, gab es auch unter solchen Fehlbesetzungen auf dem Trainerstuhl wie Wolf Werner mal ein 8:2 gegen Hamburg; der VFL Bochum kam in den 90ern mit 7:1 und 6:2 gleich zweimal am Bökelberg unter die Räder. Es schien so als läge die Fähigkeit zum gelegentlichen Kantersieg einfach in der DNA des Vereins. Dann gab es den ersten Abstieg und nach Wiederaufstieg war lange Zeit kein Platz für Hurrah-Fussball. Auch als mit Lucien Favre der Erfolg wiederkam war das Spiel der Elf eher ein vorsichtiges. Oft sehr ansehnlich, aber ein 5:0 gegen Bremen war eher die Ausnahme als die Regel. Hinten schuf der Maestro ein kleines Wunder: mit 24 und 26 Gegentoren mussten ter Stegen und Sommer weniger Saisongegentore hinnehmen als es Kleff, Kneib, Sude oder Kamps jemals geschafft hätten. Die Anzahl der geschossenen Treffer jedoch war nicht so überwältigend: Selbst in der Fast-Abstiegs-Saison 97/98 gelangen der Fohlenelf mehr Treffer (54) als jemals in den 4 Jahren unter Favre.

 Dann kam Andre Schubert und innerhalb von 22 Minuten führte man gegen den sonst so unangenehmen FC Augsburg mit 4:0. Und das ging weiter so: 5:1 in Frankfurt, 4:1 in Berlin, es schien als habe der damalige Interimstrainer das Borussen-Gen zum Toreschieβen reaktiviert. Als das Jahresende nahte, präsentierte sich dann aber auch die Kehrseite der Medaille. Borussias offensivere Ausrichtung schien auf Kosten der Abwehr zu gehen: In gut 100 Minuten Fussball auf 2 Abende verteilt kassierte die Borussia satte 8 Gegentreffer in Manchester und Leverkusen. Auch gegen Teams der unteren Tabellenhälfte schien auf einmal alles drin zu sein: 3:3 in Hoffenheim, 3:4 gegen Werder im Pokal, 3:2 gegen Darmstadt. Borussia war sicher eines der unterhaltsamsten Team der Liga, aber nicht immer auf die Art und Weise wie man sich das wünschte. Zu Beginn der Rückrunde schien es so weiterzugehen: 3 Gegentore gegen Dortmund und beim sonst so harmlosen HSV, allerdings auch ein glattes 5:1 gegen Werder Bremen. Die Borussenfans disktutierten wild ob sie sich nun über die Torfreudigkeit des eigenen Teams freuen oder wegen der Durchlässigkeit der Abwehr Sorgen machen sollten. Im Forum dieser Seite schrieb ich damal sinngemäss, dass es doch egal sei wieviel Tore man kassiere, solange man nur noch viel mehr selber macht und zitierte dabei die Saison 72/73, als man mit dem erstaunlichen Torverhältnis von 82:61 Fünfter wurde.

 Unter Fussballstatistikern ist es weitgehend akzeptiert, dass die Punktzahl zwar die beste Zusammenfassung der Vergangenheit (also der bisherigen Spiele) liefert, das Torverhältnis aber höheren Vorhersagewert für die Zukunft hat. Ein 1:0 Sieg ist eben mit höherer Wahrscheinlichkeit eher ein Zufallsprodukt als ein 5:0 und auch wenn beide Teams 3 Punkte erziehlt haben würde man dem 5:0-Sieger für die nächsten Partien die besseren Chancen einräumen. Insofern schaue ich in Tabellen oft auch auf die Tordifferenz. Kleine Unterschiede sagen dabei natürlich wenig aus, aber es sind die Fälle der Mannschaft in der oberen Tabellenhälfte mit schlechtem Torverhältnis oder umgekehrt derer die unten stehen aber eine gute Tordifferenz haben, die interessant sind. Zum Beispiel lag Hannover 96 in der Vorsaison zur Winterpause mit 24 Punkten nur 3 Punkte hinter dem vierten (einer gewissen Borussia aus Mönchengladbach). Als einziges Team auf den einstelligen Tabellenplätzen hatte man mit -5 jedoch eine eindeutig negative Tordifferenz.  In der Rückrunde holte man nur noch 13 Punkte und konnte am Ende nur knapp dank des Retters Frontzeck die Bundesligazugehörigkeit um ein Jahr verlängern.

 Ist es nun jedoch nur die Tordifferenz die etwas aussagt oder spielt es auch es eine Rolle wieviele Tore geschossen wurden? In meiner Forumsdiskussion hatte ich dies mit meinem Statement „Hauptsache die Tordifferenz stimmt“ implizit verneint. Als ich später darüber nachdachte, kam mir das aber auf einmal zweifelhaft vor. Oft hilft es sich extreme (wenn auch unwahrscheinliche) Szenarien vor die Augen zu führen. Stellen wir uns vor Mannschaft A hat ein Torverhältnis von 30:10, Mannschaft B von 100:80. Nach der momentanen Regelung würde Mannschaft B bei Punktgleichheit höher eingestuft, aber ist das wirklich das Team, das wir für besser halten würden, in dem Sinne dass wir ihm in der nächsten Saison mehr zutrauen als Team A (unter der Annahme beide bleiben mehr oder weniger unverändert)? Mannschaft A hat ja immerhin 3 mal so viele Tore geschossen wie hingenommen, der Quotient liegt nur bei 1.25 für Team B. Sollte man also eher den Torquotienten als Kriterium benutzen? Früher wurde das wirklich so gehandhabt und wenn mich Wikipedia nicht belügt, ist das im Hockey heute noch der Fall.  Das scheint auch nicht so ganz zu passen, denn dass 5:1 Tore besser als 40:10 sein soll, wirkt befremdlich.

 Wie kann oder soll man nun aber Torverhältnisse mit einander vergleichen? Da kann die Mathematik/Statistik helfen. Das einfachste statistische Modell für Zähldaten – und Tore werden nun definitiv gezählt, ausser es war abseits – ist die sogenannte Poisson-Verteilung. Für ein Team, das im Durchschnitt 2 Tore erzielt (fast Borussias Schnitt) erwartet man unter dieser Verteilung z.B in 14%  aller Spiele kein Tor, 27% mal eines, 27 % mal zwei, 18% mal drei, 10% mal vier, 4% mal fünf, 1% mal sechs und ziemlich selten mehr. Genauso kann man die Wahrscheinlichkeiten für die Gegentore ermitteln und damit auch für einzelne Spielausgänge, was einem dann erlaubt die zu erwartende Punktzahl für eine Mannschaft mit diesen Werten pro Spiel oder nach eleganter Multiplikation mit 34 für eine Saison auszurechnen. Machen wir das für die von Borussia wirklich erzielten Werte in dieser Saison (67/34 und 50/34) so erhalten wir einen Wert von 57.7 Punkten, was nicht weit weg liegt von den real erzielten 55 Punkten. Für die Vorsaison mit 53:26 Toren würden wir sogar exakt die 66 Punkte vorhersagen. Für das fiktive Beispiel von Mannschaft A und B weiter oben würde man bei 30:10 Toren 63 Punkte vorhersagen,  bei 100:80 aber nur 58 und damit haben wir unsere Antwort: bei gleicher positiver  Tordifferenz ist das Team mit den weniger geschossenen Toren stärker einzuschätzen; bei negativer Tordifferenz dreht sich das ganze um: das Team mit 80:100 Punkten kann 38 Punkte erwarten, dass mit 10:30 nur 26. Oder anders ausgedrückt: Ich lag falsch mit der „Solange die Tordifferenz erhalten bleibt, isses wurscht“-These.

 Gäbe es noch die 2-Punkte-Regel würde diese Weisheit  global gelten, bei der 3-Punkte-Regel gibt es leider bei (fast) ausgeglichenen Torverhältnissen eine Umkehrung: dann ist es besser viele Tore zu schiessen und viele zuzulassen als bei beidem kleine Zahlen zu haben. Ein Team mit 100:100 zu Toren wird halt in der Haelfte der Fälle verlieren, in der anderen gewinnen und damit bei 51 Punkten landen, während eine 0:0-Mannschaft nur 34 Punkte erzielt und auch 102:100 ist besser als 2:0.

 Bevor jetzt die „ja, aber“s auf mich einprasseln wie der Regen an einem stürmischen Tag an der schottischen Westküste, sollte ich den amerikanischen Statistiker George Box zitieren der dereinst sagte: „Alle (statistischen) Modelle sind falsch, aber einige sind nützlich“. Das von mir hier verwendete Modell ist an sehr vielen Stellen falsch: weder unterscheidet es zwischen Heim und Auswärtsspiel (das habe ich versucht, es machte aber keinen grossen Unterschied) noch bezieht es die Stärke der Gegner mit ein und ignoriert auch Abhängigkeiten zwischen erzielten und erhaltenen Toren in einem Spiel. Und man kann sicher noch viele andere Mängel finden. Wenn man also wirklich die Punktausbeute eines Teams vorhersagen möchte, dann muss man mehr Arbeit hineinstecken. Aber das war auch nicht das Ziel, sondern es ging mir darum das Prinzip „Bei gleicher positiver Tordifferenz sind weniger Tore besser“ zu erläutern und das hätte auch unter komplizerteren Modellansätzen Bestand.

 Was Borussia betrifft, so könnte man nun daraus den Schluss ziehen, dass der Favresche Sicherheitsfuβball besser als der Schubertsche Sturm und Drang ist. Das ist aber so nicht richtig, denn wertet man nur die 29 Spiele unter Schubert mit 65:38 Toren ist die Vorhersage 66 Punkte, also genau Favres Bilanz in der Vorsaison. Im Prinzip geht es in in diesem Artikel (die nostalgische Einleitung ausgenommen) auch gar nicht so sehr um Borussia, sondern eher darum dem Leser zu helfen in einer Tabelle nicht nur Rang und Punktzahl, sondern auch das Torverhältnis zu würdigen und entsprechend zu interpretieren.

 Wenn man Schlussfolgerungen für Borussia ziehen will dann vielleicht die, dass es für eine Mannschaft der obern Hälfte einfacher ist sich zu verbessern in dem man mehr Tore verhindert als mehr erzielen zu wollen, was nicht weit entfernt liegt von Phrasen wie „Die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive Meisterschaften“ mit dem Unterschied, dass die Defensive auch Spiele gewinnt, weil sonst wäre es schwer mit den Meisterschaften. Schaut man sich die Transferabsichten an, so scheint das den Verantwortlichen auch voll bewusst und die Tatsache, dass wir in den letzten 14 Saisonspielen nur 13 Gegentreffer hinnehmen mussten deutet an, dass auch schon innerhalb der Saison manches verbessert wurde. So sehr der kühle Mathematiker  diese Konzentration auf die Defensive rational unterstützt, so sehr freut sich aber auch der Gladbach-Romantiker in mir über die beste Trefferquote der letzten 29 Jahre und hofft dass der neue Defensivfokus nicht die Produktion der wiederbelebten Torfabrik allzu sehr beeinträchtigt. So schön ein taktisch erarbeiteter 1:0-Erfolg auch ist, braucht die Fan-Seele doch gelegentlich mal so ein 5:1 (selbst wenn es hart umkämpft ist).